Stuttgart. Deutschland führt lange gegen Spanien – doch dann kommen die letzten Sekunden. Ein DFB-Debütant braucht Nachhilfe beim Abseits.

Joachim Löw starrte mit leerem Blick auf den Rasen und stemmte leicht frustriert die Hände in die Hüften. Ein bitteres Gegentor in letzter Sekunde hat die deutsche Nationalmannschaft einen siegreichen Neustart nach der längsten Länderspielpause seit 70 Jahren gekostet.

Im ersten Spiel nach 289 Tagen sah das Team von Bundestrainer Joachim Löw zum Auftakt der Nations League in Stuttgart gegen Spanien nach einem Tor von Timo Werner (51.) lange wie der Sieger aus, ehe Jose Gaya (90.+6) noch der Ausgleich zum 1:1 (0:0) gelang.

Spätes Remis: Gosens kennt Abseitsregel nicht

"Es geht mir ordentlich auf den Zünder, dass wir in der letzten Sekunde dieses Eier-Gegentor bekommen haben", sagte Debütant Robin Gosens (Atalanta Bergamo), der bei seiner ersten Kadernominierung gleich in die Startelf rückte und eine ordentliche Partie als Linksverteidiger absolvierte.

Einziger Wermutstropfen für Gosens war, dass er beim Ausgleich in der Nachspielzeit das Abseits aufhob, weil er nach einer Grätsche hinter der Torauslinie liegen geblieben war. "Ich habe wieder etwas gelernt. Ich dachte, wenn ich hinter der Linie stehe, bin ich nicht mehr im Spiel." Was Gosens nicht wusste, dann aber vom ZDF erfuhr: Der Raum hinter der Torlinie wird bei der Ermittlung von Abseits als Torlinie gewertet. "Ach so, okay", sagte Gosens trocken.

DFB-Debütant Robin Gosens hatte an dem späten Ausgleich zu knabbern.
DFB-Debütant Robin Gosens hatte an dem späten Ausgleich zu knabbern. © Christian Charisius/dpa

ZDF-Experte Per Mertesacker wirkte erschüttert ob dieser Unwissenheit. "Das muss er wissen als Fußballprofi", sagte der frühere Nationalspieler.

Seinen Trainer Joachim Löw hat Gosens dennoch überzeugt. "Er hat mir lange Zeit gut gefallen – mit seiner Dynamik und seiner Passtechnik", sagte der Coach, der seiner gesamten Mannschaft einen "tollen Kampf" bescheinigte.

DFB-Torschütze Werner ärgert sich über Remis

Das Unentschieden zum Start ins EM-Jahr war aber aus einem anderen Grund besonders: Aufgrund der Corona-Auflagen war es das erste Geisterspiel der deutschen Länderspielgeschichte. Torschütze Werner musste seinen zwölften Länderspiel-Treffer auf Vorlage von Debütant Robin Gosens in seiner Geburtsstadt Stuttgart vor leeren Rängen feiern.

„Das ist sehr ärgerlich, wir haben viel reingesteckt ins Spiel, sind sehr viel gelaufen“, sagte Werner im ZDF: „Nach dem Tor haben wir uns vielleicht zu weit hintenraus reindrücken lassen.“

Ohne die vier Münchner Triple-Helden um Torwart Manuel Neuer und Torjäger Serge Gnabry fehlten bei der DFB-Auswahl zwar noch die Automatismen, doch kämpferisch wussten Werner und Co. gegen die zuvor in elf Spielen ungeschlagenen Spanier zu überzeugen. Bereits am kommenden Sonntag (20.45 Uhr/ZDF) in Basel gegen die Schweiz steht für Deutschland das zweite Gruppenspiel der Nations League an.

Sané überzeugt bei DFB-Comeback

Der DFB hätte zum ersten Länderspiel des Jahres zwar gerne 500 ausgewählte Menschen aus dem Gesundheitswesen eingeladen, doch die Uefa lehnte dieses Ansinnen mit Verweis auf eine einheitliche Lösung ab.

Löw verhalf den monatelang verletzten Niklas Süle und Leroy Sané zu ihrem Comeback, wobei sich der Neu-Münchner Sané auf Anhieb als erfrischendes Element im Angriffsspiel erwies. Dabei fühle er sich laut eigener Aussage erst bei "80 Prozent".

Leroy Sané spielte erstmals seit seinem Kreuzbandriss wieder für die deutsche Nationalmannschaft.
Leroy Sané spielte erstmals seit seinem Kreuzbandriss wieder für die deutsche Nationalmannschaft. © Matthias Hangst/Getty Images

Löw forderte vor dem Anpfiff „Präsenz und Aggressivität“ gegen den spielstarken Weltmeister von 2010 - und die Spieler gingen zu Beginn mutig ins Pressing. Der Lohn waren frühe Chancen durch Thilo Kehrer (11.), Julian Draxler (14.) und Sané (18.), doch die Defensive stand nicht immer stabil.

Nach einem riskanten Rückpass des unsicheren Emre Can lief Torhüter Kevin Trapp, der den geschonten Neuer und den verletzten Marc-Andre ter Stegen vertrat, zuerst am Ball vorbei, um ihn im zweiten Anlauf doch noch vom Fuß des einschussbereiten Rodrigo Moreno wegzugrätschen (14.). Kurz vor dem Halbzeitpfiff rettete der Frankfurter Schlussmann erneut gegen Spaniens Stürmer, der Can im Laufduell hatte schlecht aussehen lassen.

Gegner Spanien vollzieht einen Umbruch

Die Gäste, die sich ebenfalls in einem personellen Umbruch befinden, waren von der gewohnten Ballsicherheit und Dominanz weit entfernt. Die DFB-Auswahl, von der einige Spieler wie Ersatzkapitän Toni Kroos direkt aus dem Urlaub angereist waren, agierte bemüht, aber auch mit zahlreichen Abspielfehlern und Abstimmungsproblemen. Auch deshalb blieb das Spektakel in der Stuttgarter Arena aus.

Nach dem Seitenwechsel wurde es etwas munterer, was auch an der schnellen 1:0-Führung. Die Spanier, bei denen der 17-Jährige Ansu Fati (FC Barcelona) in der zweiten Halbzeit als jüngster Spieler seit dem Zweiten Weltkrieg sein Debüt gab, drückten nun verstärkt auf den Ausgleich.

Dadurch ergaben sich jedoch auch Räume zum Kontern für das Löw-Team. So vergab Werner in der 61. Minute eine Riesenchance zum 2:0. Einem Kopfballtor Fatis verweigerte Schiedsrichter Daniele Orsato wegen eines Foulspiels die Anerkennung (90.+1).

Die Statistik:

  • Deutschland: Trapp - Rüdiger, Süle, Can - Kehrer, Gosens - Kroos, Gündogan (75. Serdar) - Draxler - Werner (90. Koch), Sané (63. Ginter). - Trainer: Löw
  • Spanien: De Gea - Carvajal, Ramos, Pau Torres, Gaya - Ruiz (80. Rodri), Busquets (57. Merino), Thiago - Navas (46. Fati), Rodrigo, Ferran Torres. Trainer: Enrique
  • Schiedsrichter: Daniele Orsato (Italien)
  • Tore: 1:0 Werner (51.), 1:1 Gaya (90.+6)