Hamburg. Der Buchholzer Nikias Arndt spricht vor der Tour de France über die Risiken seines Sports und seine Sorgen hinsichtlich Corona.

Mit gemischten Gefühlen ist Nikias Arndt am Dienstag aus seiner Wahlheimat Köln nach Nizza gereist. In der Hauptstadt des Departements Alpes-Maritimes beginnt an diesem Sonnabend die 107. Tour de France, und der 28-Jährige aus Buchholz in der Nordheide, der für das deutsch-niederländische Team Sunweb als Road Captain fungiert und seinen Vertrag kürzlich bis Ende 2022 verlängert hat, ist vor dem Start des wichtigsten Radrennens des Jahres nicht frei von Bedenken.

Hamburger Abendblatt: Herr Arndt, es heißt, dass 70 Prozent des Sponsoringvolumens im professionellen Radsport bei der Tour de France generiert werden. War es deshalb alternativlos, dass Sie und Ihre Kollegen starten?

Nikias Arndt: Natürlich ist die Tour eine riesige Plattform, die wir mit unserem Sport sonst nirgendwo geboten bekommen. Ich kenne mich mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht ausreichend aus. Aber klar ist, dass die mediale Präsenz, die wir mit der Tour haben, für alle Sponsoren enorme Bedeutung hat. Gleichwohl fiebern auch wir Sportler auf die Tour hin. Sie ist das wichtigste Rennen der Saison, hat großes Prestige. Deshalb ist auch der sportliche Wert immens.

Das heißt, Sie treten freiwillig an und fühlen sich nicht als eine Spielfigur im großen Unterhaltungskosmos?

Arndt: Die Entscheidung, zur Tour anzutreten, habe ich aus freien Stücken getroffen. Wenn mir das Risiko zu hoch wäre, hätte es einen Weg gegeben, aus dem Team auszusteigen. Ich gebe aber zu, dass mir die Entscheidung vor ein paar Monaten, als das Team zusammengestellt wurde und die Corona-Zahlen niedriger waren, leichter gefallen ist, als es aktuell mit den steigenden Zahlen der Fall gewesen wäre. Dennoch gehe ich guten Gewissens an den Start, weil ich weiß, dass alle Beteiligten alles tun, um gesund durch die drei Wochen zu kommen.

Wie ist es denn um Ihr ganz persönliches Sicherheitsgefühl bestellt?

Arndt: Das ist gemischt. Angesichts der steigenden Zahlen schwingt eine gewisse Sorge mit, ob wir es wirklich schaffen, ohne Vorfälle durchzukommen. Für Nizza gibt es zum Beispiel eine neue Reisewarnung der Bundesregierung. Da macht man sich schon Gedanken. Andererseits ist das Hygienekonzept, das der Tour-Veranstalter ausgearbeitet hat, sehr detailliert. Ich musste es dreimal lesen, um alle Feinheiten zu verstehen. Es gibt mehrere Blasen, in denen wir Fahrer und die anderen Beteiligten leben, und deren Kontakt untereinander ist streng geregelt. Deshalb fühle ich mich in unserem inneren Kreis doch relativ sicher.

In diesem Kreis werden Sie allerdings während der Etappen nicht bleiben. Wie stehen Sie zu der Entscheidung, Zuschauer nicht auszuschließen?

Arndt: Grundsätzlich lebt der Sport von seinen Fans, und die Tour de France ganz besonders. Für die Franzosen ist die Tour ein Höhepunkt des Jahres, sie ist ein riesiges Familienfest. Das wird es in diesem Jahr in der Form nicht geben, und das wird mir fehlen. Ich halte es zwar für nachvollziehbar, dass Zuschauer unter Einhaltung von Regeln zugelassen sind. Aber ich appelliere an die Fans, dass sie uns in diesem Jahr mehr helfen, wenn sie zu Hause bleiben oder zumindest mehr Abstand halten an der Strecke als gewohnt, denn das Risiko ist einfach zu hoch, wenn wir mit Puls 180 und schwer atmend eng an den Fans vorbeifahren.

Sie sind ja schon einige Rennen gefahren, seit die Saison Anfang des Monats begonnen hat. Wie sehr verändert die fehlende Atmosphäre Ihren Sport?

Arndt: Natürlich ist das komisch. Ich kann aus meiner Sicht sagen, dass mich das Anfeuern der Fans gerade am Berg zusätzlich pusht. Also verändert das schon etwas. Aber es geht allen ähnlich, wir müssen uns darauf einstellen. Grundsätzlich möchte ich die Fans einmal loben. Ich habe viele mit Maske am Straßenrand stehen sehen, die allermeisten halten Abstand oder kommen gar nicht erst. Sie verhalten sich wirklich vernünftig.

Von einigen Ihrer Kollegen konnte man das in den ersten Wochen der Saison nicht behaupten. Vor allem der schlimme Crash bei der Polen-Rundfahrt, als Dylan Groenewegen Fabio Jakobsen in die Absperrung drängte, hat für viele Diskussionen gesorgt. Wie denken Sie über diese Problematik?

Arndt: Grundsätzlich ist es zu Saisonbeginn oft so, dass das Feld nervöser ist, weil manche Fahrer glauben, sich beweisen zu müssen. Ich würde mir auf unserer Seite wünschen, dass wir unsere Verantwortung besser wahrnehmen und uns gegenseitig schützen. Wenn alle etwas mehr Vernunft walten lassen, ihrer Fahrlinie treu bleiben und lieber einmal mehr die Bremse benutzen, ist viel gewonnen. Aber die Verantwortung liegt nicht nur bei den Fahrern.

Sondern?

Arndt: Die Veranstalter müssen dafür sorgen, dass die Strecken sicherer werden. Ein Bergab-Zielsprint wie bei der Polen-Rundfahrt, den wir seit Jahren monieren, muss entschärft werden. Eine Abfahrt wie bei der Dauphiné auf Schotter mit Schlaglöchern ist gemeingefährlich. Und der Weltverband muss dafür sorgen, dass es entsprechende Regeln gibt, die Veranstaltern vorschreiben, wie die Sicherheit gewährleistet werden muss. Diese Regeln müssen dann genauso akribisch kontrolliert werden wie wir Fahrer. Wenn alle ihren Teil der Verantwortung tragen, werden die Rennen sicherer.

Sie gelten als besonnener Fahrer, haben als Road Captain Führungsverantwortung. Wie wirken Sie in dieser Diskussion ein?

Arndt: Ich versuche, meinen Kollegen mitzugeben, dass wir Risiken nur dann eingehen sollten, wenn sie unvermeidbar sind wie zum Beispiel beim Zielsprint. Und ich spreche meine Bedenken auch bei Veranstaltern und Funktionären an.

Angesichts all der besonderen Umstände in diesem Jahr: Ist der Tour-Sieg 2020 so wertvoll wie in anderen Jahren?

Arndt: Da gehen die Meinungen tatsächlich auseinander. Einige Fahrer haben mit der Saison abgeschlossen. Ich persönlich sehe es anders. Wir haben so viel investiert, um in Form zu kommen. Deshalb halte ich die Tour 2020 für genauso wertvoll wie in all den Jahren zuvor – sofern wir gut durchkommen.

Und Sie wollen endlich den Etappensieg, der Ihnen 2017 mit einem zweiten Rang so knapp verwehrt blieb?

Arndt: Das ist meine Zielsetzung, ja. Allerdings habe ich noch keine Etappe ausgemacht, die mir wirklich besonders gut liegen könnte. Deshalb warte ich mal ab und arbeite ansonsten als Allrounder dafür, dass wir als Team möglichst viele Etappen gewinnen.

Welches Team sehen Sie als Tour-Favoriten, und welcher deutsche Fahrer könnte ganz vorn mitmischen?

Arndt: Wenn Emanuel Buchmann seinen Sturz bei der Dauphiné gut verkraftet hat, dann halte ich ihn ganz klar für einen Kandidaten für eine Podiumsplatzierung. Er hat auf mich bisher einen sehr starken Eindruck gemacht. Was die Teamwertung angeht, sehe ich Jumbo-Visma vorn. Aber ich bin auf jeden Fall sehr gespannt. Und ich freue mich auf die Tour, trotz allem.