Hamburg.

„Gersthofen, meine ich“, sagt Julian Nagelsmann. Dass der Beginn seiner erstaunlichen Trainerkarriere einmal mit der 22.000 Einwohner kleinen Stadt im Landkreis Augsburg in Verbindung gebracht werden wird, ahnt Julian Nagelsmann im Januar 2008 nicht. Damals wird der 20-Jährige vom Trainer der zweiten Mannschaft des FC Augsburg zur Gegnerbeobachtung nach Gersthofen entsandt. Nagelsmann hat lange um die Fortsetzung seiner Spielerlaufbahn gekämpft, aber einsehen müssen, dass die Knieverletzung das Ende seines Traums von einer Bundesligakarriere bedeutet. Sein Trainer in der Landesligamannschaft des FCA kann sich gut in die Lage des talentierten zentralen Defensivspielers hineinversetzen. Er hat acht Jahre zuvor seine Laufbahn schon mit 24 Jahren beenden müssen. Nagelsmanns Trainer heißt: Thomas Tuchel.

In der Saison 2019/20 trainiert Tuchel den französischen Meister Paris Saint-Germain schon im zweiten Jahr, Nagelsmann ist gerade von der TSG Hoffenheim zu RB Leipzig gewechselt, im Halbfinale der Champions League in Lissabon treffen sie an diesem Dienstag aufeinander (21 Uhr/Sky, DAZN). Die beiden gelten mit Jürgen Klopp als die gefragtesten deutschen Fußballtrainer.

„Dass es so weit einmal kommen würde, hätte ich mir damals nie träumen lassen“, sagt Nagelsmann, „am Anfang bin ich mit meiner heutigen Frau zu den Spielen der Gegner gefahren. Sie hat mit der Handkamera gefilmt, und ich habe parallel dazu Notizen gemacht.“ Doch Vortrag und Aufsatz seines einstigen Spielers gefallen Tuchel. Seit diesem Augenblick hat Nagelsmann eine neue Aufgabe: Er beobachtet für Tuchel kommende Gegner der Augsburger.

Nagelsmann hat bis heute nicht vergessen, dass seine Trainerwerdung ganz eng mit dieser Zeit in Augsburg und mit Tuchel verbunden ist: „Nachdem ich ein paarmal die Gegner gescoutet hatte, sagte Thomas zu mir, ich solle doch Trainer werden. Er glaube, dass ich talentiert sei dafür durch die Art und Weise, wie ich ticke und wie ich spreche.“ Als Nagelsmanns Vertrag in Augsburg im Sommer 2008 ausläuft, gibt Tuchel ihm den Tipp, dass bei 1860 München in der U 17 ein Co-Trainer gesucht wird. Nagelsmann wechselt schließlich zu 1860 – und seine Trainerkarriere beginnt.

Nagelsmann trainierte in Augsburg unter Tuchel

Tuchel hatte sich bereits 2005 nach seiner Stuttgarter Zeit (Co-Trainer der U 19 beim VfB) für den Trainerberuf entschieden und plant die letzte Stufe der Ausbildung zu absolvieren, den Fußballlehrer. Als er im Sommer zum FC Augsburg wechselt, ist Tuchel schon angemeldet für den Kurs, aber ein Anruf von Rainer Hörgl, damals Cheftrainer in Augsburg, bei DFB-Chefausbilder Erich Rutemöller genügt. Tuchel darf ein Jahr später mit dem „Fußballlehrer“ beginnen. Denn er kommt in einen Club im Aufbruch, der gerade in die Zweite Liga aufgestiegen ist und bei dem er an vielen Stellen gebraucht wird.

Tuchel wird nicht nur als A-Jugendtrainer angestellt, sondern auch als Nachwuchskoordinator. Sein Verantwortungsbereich reicht von der U 23 mit dem Spieler Nagelsmann, die er später dann auch trainiert, bis hinunter in die F-Jugend. Mit dieser Doppelbelastung als Trainer und Verantwortlicher für den Nachwuchsbereich lebt Tuchel drei Jahre lang in Augsburg. Zudem betreibt er damals nebenher noch eine eigene Fußballschule, mit der er immer wieder Trainingseinheiten für Nachwuchsteams anbietet.

All das erledigt er eine gewisse Zeit lang sogar ohne Auto. Ihm fehlt das Geld, um Ersatz für seinen alten Audi zu beschaffen, der nach angeblich mehr als 600.000 Kilometern auf dem Tacho den Geist aufgegeben hat.

So pendelt Tuchel vom gemeinsamen Wohnsitz mit seiner Freundin Sissi in München aus täglich mit dem Zug nach Augsburg. Sissi, die Tuchel 2009 heiraten wird, muss ihn in ihrem Auto öfters für Spielbeobachtungen in kleine Ortschaften im Großraum Augsburg chauffieren. Schon damals fällt dem damaligen Spieler Julian Nagelsmann an seinem jungen Trainer in Augsburg das unbedingte Gewinnenwollen auf.

„Thomas hatte einen extremen Siegeswillen! Er hatte auch ein extremes Selbstbewusstsein. Ich hatte immer den Eindruck, der weiß, was er kann, und weiß, was er will. Er war sehr bestimmt in dem, was er tat, und einer, der weiß, dass er vielleicht auch mal ein sehr großer Trainer wird“, erinnert sich Nagelsmann. „Er war extrem perfektionistisch, hat fast jeden Pass vorgegeben. Er hatte viele Spieler, die er viel gecoacht und ständig angeschrien hat.“

Das Training sei sehr abwechslungsreich gewesen, er habe eigentlich keine Übung zweimal gemacht. Charakteristisch waren sehr komplizierte Passspiele mit Positionswechseln und Laufwegen, die immer unterschiedlich waren. „Unter der Woche war das Training auf totale Reizüberflutung angelegt, damit die Spieler die Abläufe am Wochenende als leicht empfinden im Spiel.“

So ähnlich klingen Beschreibungen von Spielern, die später über Nagelsmanns Ansatz als Trainer referieren. Tuchels Training sei auf jeden Fall prägend für ihn gewesen, erzählt Nagelsmann. Auf den Heimfahrten von Augsburg nach München schläft Nagelsmann oft im Zug ein, weil das Training so anstrengend für den Kopf ist. Die Spieler sind nach jeder Einheit erschöpft.

„Man saß bei Thomas nie in der Kabine und hat gedacht: Oh, heute ist Dienstag, da machen wir das, und heute ist Mittwoch, da machen wir das“, erinnert sich Nagelsmann, „man konnte sich nie so richtig einstellen auf das, was kommt. Das war spannend und schon prägend für mich, weil ich heute als Trainer ja einen ähnlichen Ansatz verfolge.“ Tuchel hält viel vom Spieler Nagelsmann und fordert ihn stark, mit lauter, direkter Ansprache. Diese Art erleben auch viele Spieler später in der Bundesliga, der eine kann mit diesem direkten Ton umgehen, der andere nicht.

Tuchel neigt zu Überreaktionen bei Fehlleistungen der Spieler

Tuchel polarisiert mit dieser Herangehensweise bereits als Jugendtrainer. „Er ist ja ein Trainertyp, der supergut ankommt – oder gar nicht“, sagt Nagelsmann. Doch Tuchel neigt in seiner grundsätzlichen Fokussierung auf das Sportliche bei Spielern, die er nicht für so förderwürdig hält, auch zu Überreaktionen auf Fehlleistungen. „Es war damals in Augsburg schon so, dass er Spieler ganz früh im Spiel vom Platz geholt hat, wenn diese nicht so performt haben, wie er sich das vorgestellt hat. Und das kam bei Thomas häufig vor.“

Als Nagelsmann Jahre später U-19-Trainer in Hoffenheim ist, besucht er das Training der Mainzer Profis unter Tuchel. Die beiden haben bis dahin keinen Kontakt mehr gehabt, Nagelsmann erinnert sich: „Es war spannend für mich, wie er reagieren würde, weil wir ja in Augsburg auch ein paarmal aneinandergeraten waren. Aber das Wiedersehen verlief sehr herzlich und vertraut, wir haben uns zehn Minuten ausgetauscht. Thomas wirkte deutlich älter, nicht mehr so studentisch. Er hat auf dem Platz zwar noch rumgeplärrt, aber trotzdem hatte ich den Eindruck, er sei ruhiger geworden.“

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Thomas Tuchel: Die Biografie“ von Daniel Meuren/Tobias Schächter, unlängst erschienen im Verlag Die Werkstatt, 192 Seiten, 19,90 Euro.