Hamburg. Michael Kohlmann über den Wiederbeginn nach der Corona-Pause, Tennis ohne Zuschauer und die bessere Verteilung von Preisgeldern.

Auf die anstehende Woche freut Michael Kohlmann sich ganz besonders. „Endlich kann ich wieder Tennis live schauen anstatt aus der Konserve“, sagt der 46-Jährige, der seit Fe­bruar 2015 im Deutschen Tennis-Bund (DTB) als Kapitän des Daviscupteams fungiert. Die Vorrunde der nationalen Turnierserie (siehe Infokasten) wird der in München lebende Ex-Profi in Großhesselohe verfolgen, die Zwischenrunde in Oberhaching, „und zwischendurch so oft wie möglich am Livestream“.

Hamburger Abendblatt: Herr Kohlmann, welches Gefühl verbinden Sie mit dem Gedanken an die nun startende Turnierserie? Erleichterung, dass es wieder losgeht? Vorfreude? Aufregung sogar?

Michael Kohlmann: Vorfreude trifft es ganz gut. Für die meisten Spieler war die größte Herausforderung in der Corona-Zeit, sich fürs Training zu motivieren, ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben. Für Leistungssportler ist das sehr schwierig. Diese Serie bietet nun endlich wieder ein Ziel. Sich im Wettkampf messen und den aktuellen Leistungsstand überprüfen zu können, das ist für alle Teilnehmer sehr wichtig.

Welchen sportlichen Wert kann ein Wettkampf haben, wenn alle Teilnehmer aus einer mindestens dreimonatigen Wettkampfpause kommen?

Kohlmann: Ich glaube, dass gerade die erste Woche sehr interessant werden kann. Die Serie ist ja so konzipiert, dass in jeder Gruppe zwei durch ihre Ranglistenposition gesetzte Spieler gegen einen Nachwuchsspieler und einen Wildcard-Spieler antreten. Dadurch, dass aber allen die Spielpraxis fehlt, könnte ich mir vorstellen, dass es Überraschungen geben wird. Die Spieler haben alle in der Corona-Pause sehr intensiv an ihrer Fitness gearbeitet und Schwachstellen behoben. Nun müssen sie sich langsam wieder ans Wettkampftennis herantasten. Dafür ist die Serie perfekt, denn sie bietet in den Pausen zwischen den Turnieren die Chance, gezielt an Defiziten zu feilen, die einem im Spielbetrieb aufgefallen sind.

Können Sie seriös einen Favoriten nennen?

Kohlmann: Jan-Lennard Struff ist aufgrund seiner Leistungen in den vergangenen 18 Monaten sicherlich der klare Favorit. Er war in den vergangenen Tagen in Oberhaching am Stützpunkt, weil er bei sich zu Hause in Kamen vor allem an der Fitness gearbeitet hatte, nun den Fokus aufs Tennis legen und dafür die besten Sparringspartner haben wollte. Er nimmt diese Herausforderung absolut ernst, deshalb glaube ich, dass er die Serie gewinnen wird. Aber aus meiner Sicht als Bundestrainer wünsche ich mir vor allem, dass die Nachwuchsspieler ihre Chancen nutzen und Überraschungen schaffen.

So läuft die Serie

  • 32 Herren, aufgeteilt in acht Gruppen à vier Spieler, starten am Dienstag an den Standorten Troisdorf, Überlingen, Großhesselohe und Neuss in die nationale Turnierserie. Gespielt wird im Modus „Jeder gegen jeden“über zwei Gewinnsätze mit Tiebreak. An den ersten drei Spieltagen finden die Gruppenspiele statt, am vierten Spieltag folgen übergreifend über die beiden am selben Standort beheimateten Gruppen Platzierungsspiele. Die Spieler auf den Plätzen eins bis vier jedes Standorts qualifizieren sich für die Hauptrunde, die auf den Plätzen fünf bis acht für die Bonusrunde. Die besten acht Spieler der Hauptrunde erreichen das Halbfinale, in dem in zwei Gruppen die vier Teilnehmer der Finalrunde ermittelt werden. Aus Hamburg ist nur Marvin Möller (21) dabei. Tennis Channel Deutschland (tennischannel.com) streamt jede Partie live.
  • Die Damen starten mit 24 Teilnehmerinnen in Darmstadt, Versmold und Stuttgart am 15. Juni.

Wie sind Sie persönlich durch die Corona-Krise gekommen? Was tut ein Bundestrainer, wenn er kein Training geben darf?

Kohlmann: Das war tatsächlich eine herausfordernde Phase. Ich habe versucht, im organisatorischen Bereich meinen Spielern so viel wie möglich beizustehen, sei es beim Erarbeiten von Sondergenehmigungen fürs Training oder bei allen Fragen rund um die Rückkehr in den Betrieb. Im DTB haben wir mit dem gesamten Trainerstab sehr viele Videokonferenzen gehalten, um uns intensiv über unsere Kaderathleten auszutauschen. Wir sind auf jeden Einzelnen eingegangen und haben versucht zu optimieren, was im normalen Alltagsbetrieb oft liegen bleibt.

Wann, glauben Sie, wird im Tennis wieder Normalität einkehren, sprich: Wann gibt es wieder internationale Ranglistenturniere?

Kohlmann: Lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass es in diesem Jahr nicht mehr dazu kommt. Mittlerweile glaube ich aber, dass sich die Organisatoren, auch durch die Beispiele aus dem Fußball oder dem Basketball, in der Pflicht sehen, ebenfalls Konzepte für die Rückkehr zu erarbeiten, und deshalb denke ich, dass wir in diesem Jahr noch Turniere sehen.

Ist Tennis ohne Fans für Sie denkbar?

Kohlmann: Auf jeden Fall. Es ist natürlich nicht wünschenswert, die Spieler spielen ja vorrangig fürs Publikum. Aber wenn es für die Veranstalter finanziell zu stemmen ist, auf die Zuschauereinnahmen zu verzichten, dann muss man zu diesem Kompromiss bereit sein, wenn es der Weg zu einem Neuanfang ist.

Viele nennen die Daviscup-Endrunde im November in Madrid als mögliches Startevent. Wenn das so käme, könnten Sie dann den deutschen Topspieler Alexander Zverev von einer Teilnahme überzeugen?

Kohlmann: Er hat seine Abneigung gegen das neue Format des Daviscups mehrfach bekundet. Aber ich denke, dass eine neue Situation entstünde, wenn es in diesem Jahr die erste Chance wäre, einen internationalen Wettbewerb zu spielen. Er will sich mit den Besten messen, da gibt es doch nichts Besseres als eine Gruppe mit Novak Djokovics Serben und Dominic Thiems Österreichern. Die Daviscup-Endrunde könnte man im Übrigen aus meiner Sicht perfekt ohne Zuschauer spielen. Dann wäre die sportliche Fairness wieder hergestellt, auch wenn wir nicht auf neutralem Grund spielen.

Coronavirus – die Fotos zur Krise

Corona hat auch im Tennis dazu geführt, dass über Themen diskutiert wurde, die im laufenden Betrieb sonst wenig Raum haben. Wie stehen Sie beispielsweise zu der Diskussion um den Zusammenschluss der Damen- und Herrenorganisationen ATP und WTA?

Kohlmann: Jede Krise birgt Chancen, und ich sehe in der Diskussion um den Wettkampfkalender sehr viel Potenzial. Ob eine komplette Zusammenlegung sinnvoll ist, kann ich schwer beurteilen. Aber eine bessere Absprache aller an der Organisation von Turnieren beteiligter Parteien ist absolut wünschenswert. Wenn diese Krise dazu den Anstoß gibt, dann wäre das etwas sehr Positives.

Und was denken Sie über den Plan, einen Solidarfonds für Spieler in den Regionen außerhalb der Top 100 der Weltrangliste aufzulegen?

Kohlmann: Ein Solidarfonds ist sicherlich eine nette Idee, aber er hilft nur einmalig. Wollen wir langfristig die Einnahmesituation von Spielern in der zweiten und dritten Reihe verbessern, müssen wir über eine Anpassung der Preisgeldverteilung reden. Die Preisgelder steigen jedes Jahr, aber davon profitieren meist nur die, die auch weit kommen. In den unteren Kategorien ist wenig passiert. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

Gedanken machen sich in der aktuellen Krise auch viele Sportlerinnen und Sportler, ob es überhaupt noch Sinn ergibt, in eine Leistungssportkarriere zu investieren. Fürchten Sie im Tennis einen Aderlass an Talenten?

Kohlmann: Bislang gar nicht. Wir führen natürlich viele Gespräche mit Jugendlichen, die den Weg auf die Profitour suchen. Aber bislang ist nicht zu spüren, dass Corona daran etwas verändert hat. Was wir spüren ist, dass die Option, in die USA ans College zu gehen, wo man häufig sehr gute Trainingsbedingungen hat, zugleich eine gute Ausbildung bekommt und noch eine andere Kultur und Sprache kennenlernt, an Bedeutung gewinnt.

Die USA sind ein wichtiges Stichwort. Die Unruhen nach dem Mord an George Floyd haben auch im deutschen Sport zu einer Welle der Solidarität geführt. Sehen Sie sich als Bundestrainer in der Pflicht, Ihre Sportler dabei zu unterstützen, sich in der Öffentlichkeit zu äußern?

Kohlmann: Grundsätzlich nehme ich natürlich wahr, dass die sozialen Medien vor allem für jüngere Spieler immer wichtiger werden. Und dass eine Gefahr darin liegt, sich mit einer unbedachten Äußerung Kritik oder sogar Konflikte einzuhandeln. Bislang hatte ich nicht das Gefühl, dass unsere Spieler gefährdet sind. Aber wenn wir merken, dass es Klärungsbedarf gibt oder jemand Rat benötigt, dann versuche ich mich einzubringen.

Gibt es Vorgaben vom Verband oder von Ihnen, was gesagt oder gepostet werden darf und was nicht?

Kohlmann: Nein. Bei den älteren Spielern setzen wir auf deren Eigenverantwortung. Bei den jüngeren sprechen wir manche Dinge an. Aber wir wollen alle, dass unsere Sportler mündige Menschen sind.

Muss das Tennis, das immer noch – wenn auch aus ganz anderen Gründen – als „weißer Sport“ bezeichnet wird, diese Wortwahl angesichts des anhaltenden Rassismus in der Welt überdenken, oder wäre das zu politisch korrekt?

Kohlmann: Darüber habe ich bislang noch nicht nachgedacht. Abgesehen von Wimbledon nutzt eigentlich niemand im Tennis mehr diese Bezeichnung. Ich denke, dass es auch nicht mehr zeitgemäß ist und auch nicht widerspiegelt, wofür Tennis steht. Wir sind ein weltoffener, toleranter, internationaler Sport. Und dafür sollten wir alle einstehen.