Hamburg. Sie hat als jüngste Deutsche die sieben höchsten Gipfel der Welt bezwungen. Jetzt plant sie ein neues Abenteuer.

Wie speziell ihre Mission ist, zeigt sich dadurch, dass sie auf die naheliegendste Frage nur schwer eine befriedigende Antwort findet. Ihre Mission erzeugt weder einen direkten Mehrwert noch sammelt sie Geld für den guten Zweck, und es ist auch nicht das Einlösen einer kuriosen Wettschuld, das sie antreibt. Und so sagt Anja Blacha auf die Frage nach dem Warum: „Ich glaube, es ist meine Reiselust. Ich lerne gern neue Dinge kennen, und ich mag Herausforderungen und Ziele.“

Millionen Deutsche stillen ihre Reiselust mit einem Flug nach Mallorca, und für den durchschnittlichen Büromenschen ist es dieser Tage schon eine Herausforderung, eine Joggingrunde an der frischen Herbstluft zu drehen. Anja Blacha dagegen wird, sobald die Wetterprognose günstig ist, in dieser Woche im chilenischen Punta Arenas ein Flugzeug des Typs Iljuschin IL-76 TD besteigen, das sie in rund viereinhalb Stunden zum Union-Gletscher bringt, einem bekannten Basislager für Antarktis-Querungen.

Doch weil es ihr nicht genügt, von dort zum Südpol zu gelangen; weil ihre Mission eine ganz besondere werden soll, lässt sich die 29-Jährige von einem Spezialflieger, der auf Skiern landen kann, zur rund 700 Kilometer entfernten Berkner-Insel bringen, der größten Eiskuppel der Erde im antarktischen Filchner-Ronne-Schelfeis. Von dort startet sie das, was für die meisten Menschen die Vorstellungskraft dessen sprengt, was ein menschlicher Körper zu leisten imstande ist.

Ihr Materialschlitten, den sie zieht, wiegt 110 Kilo

Eine Tour zum Südpol über 1400 Kilometer, und das allein, ohne Hilfsmittel wie Gleitschirm oder Motor, nur mit speziellen Langlaufski und einem Schlitten, auf dem sie zum Start 66 Kilogramm Nahrungsmittel und 45 Kilo Ausrüstung hinter sich herzieht. Ein Zeitlimit von 60 Tagen hat sie sich gesetzt, weil sie pro Tag gut ein Kilogramm Proviant benötigt und mehr schlicht nicht ziehen kann. „Wenn ich das schaffe, bin ich die erste Frau, die eine solche Distanz solo und ohne Hilfsmittel in der Antarktis überwunden hat“, sagt sie.

Ende 2018 war es dem US-Amerikaner Colin O’Brady (33) als erstem Menschen gelungen, die Antarktis allein und auf Langlaufskiern zu durchqueren. Er brauchte für die 1470 Kilometer 54 Tage. Die Britin Felicity Aston hatte 2012 als 34-Jährige innerhalb von 59 Tagen 1744 Kilometer zurückgelegt, dabei aber unterwegs mit extra angelegten Proviantdepots gearbeitet, was als Unterstützung gilt.

Wann es angefangen hat mit ihrer Leidenschaft für das Extreme, das kann Anja Blacha ohne Umschweife benennen. Mit ihren Eltern und Schwester Kirsten (31) war die gebürtige Bielefelderin in ihrer Jugend klassische Strandurlauberin. 2013 begleitete sie ihre Schwester auf eine Rucksacktour nach Südamerika. Die Schönheit Machu Picchus in den peruanischen Anden packte sie derart, dass sie sich anschließend erkundigte, welches der höchste Berg Südamerikas sei, den man besteigen könne.

Besonders harte Tour

Ein gutes Jahr später stand sie auf dem 6961 Meter hohen Gipfel des Aconcagua in Argentinien. Dieser zählt zu den „Seven Summits“, den jeweils höchsten Bergen auf allen sieben Kontinenten (Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika, Ozeanien und Arktis), deren Besteigung in Bergsportlerkreisen als Auszeichnung gilt. Von da an ging alles ganz schnell.

Weil sie für den britischen Mobilfunkriesen Vodafone ein Jahr dessen afrikanische Märkte betreute, bestieg sie als nächstes den Kilimandscharo (5895 Meter) in Tansania. Sie war die erste deutsche Frau auf dem K2 (8611 Meter) in Pakistan, die jüngste deutsche Frau auf dem Mount Everest im Himalaya, dem mit 8848 Meter höchsten Gipfel der Erde – und die jüngste Deutsche, die die „Seven Summits“ bezwang. Ihr Erweckungserlebnis hatte sie aber 2016 am Denali (6194 Meter) in Alaska.

Die Tour gilt als besonders hart, weil man seine komplette Ausrüstung allein tragen muss. Als Blacha den Mitgliedern ihrer Expeditionsgruppe vorgestellt wurde, fühlte sie sich unterqualifiziert. „Am Gipfel jedoch war ich eine der Stärksten. Ich habe zwei absolut erfahrene Bergsteiger aus unserer Gruppe am Seil gezogen. Ein Schweizer, ebenfalls sehr erfahren, ist höhenkrank geworden. Ich fühlte mich richtig gut. Da habe ich gewusst, was in mir steckt“, sagt sie.

Gnaden­lose Disziplin

Es ist die Fähigkeit zu gnaden­loser Disziplin und Durchhaltevermögen, gepaart mit einer Beharrlichkeit, die viele stur nennen würden, die die 1,67 Meter große Athletin als die unabdingbare Stärke beschreibt, die sie für Extremtouren qualifiziert. Dazu komme eine außergewöhnliche Regenerationsfähigkeit. „Während im Basislager die meisten schon abbauen, gewinne ich dort an Energie“, sagt sie. Ihr Körper sei zudem extrem krankheitsresistent. Nur einmal, während einer zweimonatigen Vorbereitungsexpedition in Pakistan, habe ihr Magen rebelliert. „Aber da ging es selbst den Sherpas schlecht vom Essen, und die können einiges ab.“

Was sie abkann, das musste Anja Blacha beweisen, bevor sie für die Tour zugelassen wurde. Die Antarctic Logistics Expeditions (ALE), so etwas wie der Monopolist für die Erlebniswelt Südpol, hat einen Anforderungskatalog erstellt, den jeder Bewerber erfüllen muss. Dazu zählen mindestens 21 Tage Polarerfahrung, Nachweis von unbegleiteten Touren, eine Outdoor-Erste-Hilfe-Ausbildung, Navigationsfähigkeiten und Erfahrung im Umgang mit Gletscherspalten.

Zwölf Stunden täglich auf Skiern

Zur Vorbereitung ihrer Tour war Blacha, die in Zürich lebt und für das Mobilfunkunternehmen Swisscom arbeitet, deshalb über den Jahreswechsel 2018/19 in Norwegen und im Frühjahr vier Wochen in Grönland. Ihr Arbeitgeber gewährte ihr dafür und für die nun anstehende Tour regulären sowie unbezahlten Urlaub.

In Grönland trainierte sie vor allem den Umgang mit den widrigen äußeren Bedingungen und ihrer Ausrüstung. Auch wenn in der Antarktis der Sommer naht und mit Höchsttemperaturen von kuscheligen acht Grad minus lockt: In der Regel beträgt der Durchschnittswert 20 Grad unter null; auf einer Höhe, die wegen der unterschiedlichen Atmosphäre mit 4000 Metern im alpinen Bereich vergleichbar ist, dauerhaft begleitet von starken Winden.

Die technische Ausrüstung für die Antarktis-Tour.
Die technische Ausrüstung für die Antarktis-Tour. © Blacha

Bis zu zwölf Stunden will sie täglich auf Skiern verbringen. Ihren Weg findet sie mittels Kompass und GPS-Gerät, die sie in doppelter Ausführung mit sich führt. Die körperliche Fähigkeit, das mit einem 100 Kilogramm schweren Schlitten im Rücken durchzustehen, hat sie sich mit dem Ziehen von Autoreifen antrainiert. Dazu ficht sie, mehr Sport treibt sie nicht regelmäßig.

Kleidung kommt große Bedeutung zu

Große Bedeutung kommt ihrer Kleidung zu. „Es ist überlebenswichtig, die richtige Kombination an Funktionskleidung zu finden, um weder zu schwitzen noch zu frieren“, sagt sie. Mehrere Lagen an Merino-Wollpullovern wird sie tragen, darüber Windstopperjacke und -hose, einen Fellkragen an der Jacke und eine Neoprenmaske im Gesicht. Je nach Temperatur hat sie eine Polar-Daunenjacke, mehrere Isolationsjacken und -westen zur Auswahl dabei.

Die Hände stecken in zwei Paar Fäustlingen, die Füße in dicken Socken plus Innenschuhen. Die Stiefel zieht sie zum Schlafen aus, um im Schlafsack ein wenig Komfort zu haben. Als Unterlage hat sie Schaumstoff- und Luftmatratzen dabei, acht Stunden Nachtruhe hat sie eingeplant. „Ich schlafe zum Glück meist sehr gut im Zelt“, sagt sie.

Drei Stunden dauert der Aufbau des Zelts – täglich

Für den Auf- und Abbau ihres geräumigen Zweimannzeltes muss jeder Handgriff sitzen, damit sie die Fäustlinge anbehalten kann; ansonsten drohen Erfrierungen. Dazu benötigt sie verlängerte Reißverschlüsse, sogenannte Zip Extensions, die sie auch mit Handschuhen zu fassen bekommt.

Rund drei Stunden hat sie täglich für den Aufbau und die Nahrungsaufnahme am Abend veranschlagt, eine weitere zum Abbau. Ihre Toilette ist das ewige Eis. Körperpflege ist nur rudimentär möglich, sie hat Feuchttücher und einen Schwamm dabei. Das dafür notwendige Wasser erwärmt sie auf einem Benzinkocher, für den sie entsprechenden Brennstoff ebenfalls mit sich tragen muss.

Der Kocher kommt vorrangig abends zum Einsatz, wenn sie sich tiefgefrorene Fertiggerichte aufwärmt. Zum Frühstück gibt es Porridge oder Müsli mit Kokosmilchpulver. Über den Tag verteilt ernährt sich Anja Blacha von Nüssen, die viel Fett und Kalorien liefern, von Trockenobst und Proteinriegeln, aber auch von Shakes, die die Verdauung entlasten. Als Belohnung hat sie Käse und Schokolade dabei. „Ich mag dieses Essen, das ist mein Vorteil“, sagt sie. Die fünf, sechs Kilogramm an Fettreserven, die sie sich angefuttert hat, sind nicht auszumachen. Mit rund 55 Kilogramm Kampfgewicht startet sie ihre Mission. Was davon übrig geblieben sein wird, wenn sie den Südpol erreicht, bleibt abzuwarten.

Keine Angst vor dem Alleinsein

Dass das, was sie in den kommenden knapp neun Wochen erwartet, sie an ihre Grenzen – und wahrscheinlich auch darüber hinaus – bringen wird, bezweifelt Anja Blacha nicht. Ihre größte Sorge ist, dass sie die Gefahren und Strapazen unter- und ihre eigene Leistungsfähigkeit überschätzt haben könnte. „Im vergangenen Jahr musste die Hälfte derjenigen, die ähnliche Touren schaffen wollten, abbrechen. Die körperlichen Strapazen sind das, was mich am meisten zweifeln lässt.“

Vor dem Alleinsein dagegen fürchte sie sich gar nicht. „Ich komme ganz gut mit mir selbst aus“, sagt sie. Auch die Angst vor Krankheiten oder Verletzungen blendet sie aus. „Ich habe eine gut gefüllte Reiseapotheke dabei, sogar ein starkes Schmerzmittel, falls ich in eine Gletscherspalte rutsche und mir etwas breche“, sagt sie. Es klingt so belanglos, als würde eine Mutter darüber sprechen, dass sie ein Heftpflaster bei sich trage, um ihr Kind zu versorgen, das sich den Finger am Dornenstrauch geschnitten hat.

Anja Blacha (29) aus Bielefeld war die jüngste deutsche Frau auf dem Mount Everest und dem K2.
Anja Blacha (29) aus Bielefeld war die jüngste deutsche Frau auf dem Mount Everest und dem K2. © Jung von Matt

Und wahrscheinlich ist genau diese lösungsorientierte Herangehensweise an Probleme jeder Art das, was Anja Blacha so sorgenresistent macht. Was, wenn ihr Zelt kaputtgeht oder die Skier, eine leichtere „Mountain-Race“-Variante mit verstärkten Stahlkanten? „Dann muss ich kreative Lösungen finden, um die Reparaturen zu schaffen“, sagt sie. Oder sie muss ihren Status der unassistierten Durchquerung aufgeben und ein paar neue Ski oder ein neues Zelt bestellen.

Diese Option, mit ihrer von ALE betriebenen Expeditions-Basis in Kontakt zu treten, bei der sie sich mittels eines Satellitentelefons alle 24 Stunden meldet, um ein Statusupdate zu geben, besteht auch bei einem medizinischen Notfall, schließlich ist Anja Blacha nicht lebensmüde. Allerdings kann es Tage dauern, bis Hilfe kommt, falls das Wetter verrücktspielt. Dass es dann zu spät sein kann, zeigt der Fall des Briten Henry Worsley (55), der im Januar 2016 nur 48 Kilometer hinter dem Südpol wegen einer akuten Bauchfellentzündung seine Expedition abbrechen musste und einige Tage später im Krankenhaus von Punta Arenas an multiplem Organversagen starb. Er hatte mit seinem Notruf schlicht etwas zu lange gewartet.

Anja Blacha ist überzeugt davon, dass ihr so etwas nicht passieren würde. Zwar sei sie sehr zielorientiert, aber nicht auf der Jagd nach Rekorden. „Ich nehme mir die notwendige Zeit, um Risiken zu minimieren. Ich bin mir nicht zu fein zu sagen, dass ich mit der Geschwindigkeit mancher Männer nicht mithalten kann. Dennoch komme ich oft genauso schnell ans Ziel, weil Männer eher dazu neigen, sich zu überschätzen“, sagt sie. Unterschätzt zu werden oder belächelt von Männern, die ihr die nötige Härte für ex­tremste Herausforderungen nicht zutrauen, das hat sie mehrmals erlebt. „Im Basiscamp am Everest war ich die Einzige, die gefragt wurde, wie weit ich denn gehen wolle. Als ich sagte, dass ich auf den Gipfel will, gab es Spott. Am Ende spottete aber niemand mehr“, sagt sie.

Blacha will beweisen, zu was Frauen imstande sind

Vielleicht ist das die Antwort auf die Frage nach dem Warum. Dass Anja Blacha beweisen will, wozu Frauen in der Lage sind. Das Motto ihrer Expedition lautet „Not bad for a girl“ – nicht schlecht für ein Mädchen. „Ich will zeigen, welche Fähigkeiten Frauen haben, um Dinge zu schaffen, die nur Männern zugetraut werden“, sagt sie.

Einen kommerziellen Hintergrund hat das Abenteuer ihres Lebens nicht – im Gegenteil. Der Sportartikelhändler Intersport unterstützt sie materiell und finanziell, aber den Großteil der sechsstelligen Summe, deren genaue Höhe sie nicht verraten möchte, stemmt sie aus privaten Mitteln.

Anja Blacha beim Training mit Autoreifen.
Anja Blacha beim Training mit Autoreifen. © Jung von Matt

Sie lebt einen Traum in den kommenden Monaten. Einen Traum, den die allermeisten Menschen wohl kaum nachfühlen können, für den sie aber niemandem Rechenschaft schuldet. Anja Blacha ist ungebunden, hat keine Kinder. Ihre Eltern, die ihre Bergtouren unterstützten, sind zwar besorgt, weil sie nicht verstehen, warum sie ohne Begleitung reist. Ihre Schwester dagegen unterstützt sie vorbehaltlos. „Letztlich jedoch mache ich das für mich. Es ist mein Projekt, und es ist mir wichtig.“

Neben ihren Navigationsgeräten trägt Anja Blacha ihr Mobiltelefon und eine Go-Pro-Kamera mit sich, um ihre Erlebnisse in Bildern festzuhalten, aus denen nach ihrer Rückkehr ein Film und eine Diashow entstehen könnten. Auch ein Buchprojekt wäre denkbar. Doch selbst wenn es dazu nicht käme; selbst wenn die Bilder am Ende nur in ihrem Kopf existierten, wäre sie zufrieden. Sie denkt auch nicht darüber nach, was noch kommen soll, wenn man die wohl extremste Erfahrung, die ein Mensch machen kann, hinter sich hat. „Für mich geht es jetzt nur darum, im Moment zu leben und zu genießen.“

Eine heiße Dusche, saubere Kleidung und frisches Essen – das, glaubt Anja Blacha, werden die Dinge sein, auf die sie sich nach ihrer Rückkehr am meisten freuen werde. Das klingt angesichts der vielen unglaublichen Details ihrer geplanten Reise banal. Aber wer sich 60 Tage allein durchs ewige Eis kämpft, der lernt die kleinen Annehmlichkeiten des Alltags wieder zu schätzen. Und das ist doch auch eine schöne Antwort auf das Warum.