Berlin. Ex-Nationalspieler Stefan Kretzschmar über die deutschen WM-Chancen und die Rolle von Bundestrainer Christian Prokop.

Für Stefan Kretzschmar sind die Feiertage noch lange nicht vorbei. Auch wenn der ehemalige Handballprofi (218 Länderspiele/821 Tore) noch im Urlaub in Dubai weilt, zählt er die Tage, bis es losgeht, bis die Handball-Weltmeisterschaft am Donnerstag in Berlin mit dem Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und einem vereinten Team aus Korea (18.15 Uhr, ZDF) startet. „Für uns ist das jetzt die Aussicht auf ein zweites Weihnachten im Januar“, sagt der 45-Jährige. Im Interview spricht er über die Chancen des deutschen Teams, den Heimvorteil – und warum es richtig war, an Bundestrainer Christian Prokop (40) festzuhalten.

Hamburger Abendblatt: Herr Kretzschmar, am Donnerstag beginnt die Handball-WM. Wie besonders ist so eine Weltmeisterschaft im eigenen Land für einen Spieler?

Stefan Kretzschmar: Das ist das Größte, das du als Handballer erleben kannst oder darfst. Wenn du in deinem eigenen Land – und ich habe die Bilder von der letzten Heim-WM 2007 noch im Kopf – vor deinen eigenen euphorischen Fans spielen kannst. Und dann wie 2007 vielleicht noch Weltmeister wirst.

Kann diese Nationalmannschaft von 2018 den Erfolg von 2007 wiederholen?

Kretzschmar: Ich glaube, dass wir über Jahre hinweg Spieler und eine Mannschaft haben, die in der Lage sein kann, bei EM und WM um Medaillen mitzuspielen. Das können aber sieben andere Teams auch. Wenn aber unsere Mannschaft eine Mannschaft wird wie 2016, als sie in Polen überraschend Europameister wurde, ist vieles möglich. Und mit der Euphorie und dem Rückenwind im eigenen Land haben wir durchaus eine Chance aufs Halbfinale. Der Bundestrainer macht das aber ganz richtig, indem er die Erwartungen erst mal flach hält.

Bundestrainer Christian Prokop stand nach Platz neun bei der EM 2018 in Kroatien stark in der Kritik. Sie kennen ihn aus Leipzig, dort war er Trainer. Sie haben damals gemutmaßt, dass der Job vielleicht ein bisschen früh für ihn kommt. War das der Grund für seinen schwierigen Start?

Kretzschmar: Nein! Ich persönlich glaube, dass man als Mannschaft nicht das Bestmögliche abrufen konnte. Aus irgendwelchen Gründen hatten viele Spieler nicht das Selbstvertrauen, das man von ihnen kennt. Was eher psychologischer statt handballerischer Natur ist. Und an diesem Misserfolg in Kroatien ist die Mannschaft jetzt gewachsen und weiß, was es braucht, um erfolgreich zu sein. Da muss man einer Mannschaft mit einem neuen Trainer auch eine gewisse Entwicklungszeit zugestehen. Prokop ist ein Trainer mit einer ganz eigenen Philosophie. Da braucht eine Mannschaft Zeit, um das zu verinnerlichen. Diese Zeit hatte sie jetzt.

Also war es richtig, an ihm festzuhalten?

Kretzschmar: Absolut. Man musste sich die Frage stellen: Was hat Prokop gemacht, was der DHB nicht wollte? Und die Frage musste man sich beantworten mit: Eigentlich hat er all das gemacht, was sie von ihm erwartet haben, und eigentlich hat er all das gemacht, weswegen sie ihn auch verpflichtet haben. Es hat dann eben beim ersten großen Turnier nicht geklappt. Daraus muss man dann lernen, und dann geht es weiter.

Ist der Erfolgsdruck, der jetzt auf Prokop lastet, bei einer WM im eigenen Land nicht sogar noch größer?

Kretzschmar: Das ist der maximale Druck. Für jeden Trainer und für jeden Spieler. Eine WM im eigenen Land ist Druck. Die Frage ist, wie man persönlich mit Druck umgeht. Bob Hanning (DHB-Vizepräsident, die Red.) sagt immer, wir benutzen Druck als Rückenwind. Toller Satz! Dazu ist nur nicht jeder in der Lage. Trotzdem muss man diesen Druck umwandeln in Stärke, und dafür ist es zwingend notwendig, dass die ersten beiden Spiele gegen Korea und Brasilien erfolgreich gestaltet werden, dass man sich da Selbstvertrauen holt. Und dann kann man in so einen Turnierflow kommen.

Das ist dann diese eigene Dynamik, die sich auch bei der EM 2016 und bei der WM 2007 entwickelt hat?

Kretzschmar: Ganz genau. Deutschland ist eine Turniermannschaft. Das habe ich oft gehört über deutsche Teams. Nicht nur im Fußball. Und das ist nicht nur eine Floskel, es ist tatsächlich so. In mentaler Stärke machen uns nur wenige Nationen etwas vor. Was Zusammenhalt angeht, was füreinander einstehen angeht. Auf genau diese Maxime muss man sich besinnen. Jeder hat seine Rolle im Team, jeder muss diese Rolle akzeptieren. Wenn ich reinkomme, gebe ich eben alles, was ich habe. Das Schlimmste ist, wenn man bei der WM scheitert und nachher sagen muss, dass man nicht alles gegeben hat, was man kann.

Das deutsche Team startet in Berlin. Wie wichtig ist der Standort für eine erfolgreiche Weltmeisterschaft?

Kretzschmar: Das ist die ideale Ausgangsbasis, um so eine WM zu starten. Es gab ja viele Diskussionen, wo die deutsche Mannschaft spielen soll – Magdeburg, Kiel, Flensburg, Göppingen. Ich finde es großartig, dass man sich für Berlin entschieden hat. Es kann eine tolle Erfolgsgeschichte werden. Ich rechne hier mit einer maximalen Euphorie, mit einem begeisterten Publikum, das unsere Mannschaft ordentlich nach vorne peitschen wird.

Welche Rolle spielen dabei die Füchse-Spieler Fabian Wiede, Silvio Heinevetter und Paul Drux, die in Berlin zu Hause sind und Heimvorteil genießen?

Kretzschmar: Das sind drei wichtige Spieler. Prinzipiell sind wir mit denen besser als ohne sie. Sowohl Wiede als auch Drux haben sich einen Status erarbeitet, der dem eines Stammspielers in der Nationalmannschaft nahekommt. Silvio Heinevetter gibt dir immer das gewisse Etwas, er ist ein unberechenbarer Torwart, der immer in den Kopf des Gegners gucken kann, der von seiner Emotionalität lebt.

Taugt Heinevetter gerade wegen dieser Emotionalität auch als Anführer der Nationalmannschaft?

Kretzschmar: Ich will den Begriff Anführer nicht überstrapazieren. Wir sprechen da immer noch von einem Torwart. Es gab in der Vergangenheit wenige Torhüter, die Anführer von Mannschaften waren. Sie sind wichtige Persönlichkeiten, die auch entscheidend sind für Erfolg und Misserfolg. Die Torhüterposition macht ja im Handball bekanntlich 50 Prozent des mannschaftlichen Erfolgs aus. Heinevetter ist ein starker Charakter, der weiß, was er will, und der sich nicht scheut, auch mal unbequeme Sachen anzusprechen. Deshalb glaube ich schon, dass er ein wichtiger Faktor im Team sein kann.

Welchen Spielern trauen Sie diese Vorreiterrolle auf dem Feld dann zu?

Kretzschmar: Ich denke, unsere beiden Kieler Kreisläufer Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler sind zwei, die immer ihren Mann stehen. Finn Lemke ist der emotionale Turm bei der EM 2016 gewesen, an dem sich alle aufgerichtet haben. Ich hoffe, dass er diese Rolle wiederfindet. Und natürlich Uwe Gensheimer, der Kapitän ist, muss Verantwortung übernehmen. Ich hoffe, dass die Jungs das hinbekommen und nicht erdrückt werden von der Last der Heim-WM.

Das klingt so, als sei eine WM im eigenen Land eine Last. Es heißt aber Heimvorteil.

Kretzschmar: Das stimmt. Man muss sich bei einem Turnier im eigenen Land keine Sorgen machen, dass man Pfiffe gegen sich bekommt. Du spielst eben nie gegen den Veranstalter, weil du das selbst bist. Und es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass man es gerne sieht, wenn der Veranstalter so lang wie möglich im Wettbewerb bleibt.

Da haben auch die Schiedsrichter einen entsprechenden Einfluss, oder? Sie haben das selbst 2002 im EM-Finale in Schweden erlebt, als Ihnen gegen den Gastgeber der entscheidende Treffer aberkannt wurde.

Kretzschmar: Um die Attraktivität hochzuhalten, wird man jetzt nicht extrem bevorteilt, aber mit dem einen oder anderen Pfiff kann man rechnen. Und vor allem kann man damit rechnen, dass die Schiedsrichter nicht gegen einen pfeifen.

Das WM-Finale findet aber dann in Herning, in Dänemark statt. Da fehlt dann der Heimvorteil.

Kretzschmar: Sollten wir nach Dänemark kommen, lass ich schon die Sektkorken knallen. Das würde ja bedeuten, dass wir im Finale sind, und da sprechen wir nicht mehr über Erfolg oder Misserfolg.