Nach Ende des Ersten Weltkrieges begann der Aufstieg des „Soldatensports“, wie ihn Kurt Tucholsky nannte.

Es war im Jahr 1929 eine Premiere, als das höchste deutsche Gericht einen Fall mit Fußball-Sammelbildern verhandelte. Kläger vor dem Reichsgericht in Leipzig war Otto Fritz Harder, Sturmtank des Hamburger SV, deutscher Meister 1923 und 1928, mit 387 Pflichtspieltoren nach Uwe Seeler (404) bis heute erfolgreichster Torschütze des Vereins, einer der bekanntesten deutschen Fußballer. Prozessgegner war die Firma Ladenburg, die Harders Konterfei an den Zigarettenkonzern Josetti verkauft hatte – dieser legte seinen Zigarettenpackungen nicht nur Sammelbilder über „Asiatische Tempelbauten“ oder „Deutsche Burgen“ bei, sondern auch „Volkstümliche deutsche Fußballer“ – darunter eben jenen Harder, von den Fans nur „Tull“ gerufen.

Harder hatte schon einen Prozess vor dem Hamburger Landgericht verloren. Der Mittelstürmer sah in der Verbreitung seines Bildes zu Reklamezwecken eine „Verletzung seiner berechtigten Interessen“, weshalb er verlangte, die Vermarktung zu unterlassen. Das Reichsgericht bestätigte in der mündlichen Verhandlung vom 26. Juni 1929 jedoch das Hamburger Urteil mit dem Argument, im Falle Harders handele es sich um „eine Figur der Zeitgeschichte“. Wörtlich hieß es: „Erscheinungen im Leben der Gegenwart, die vom Volke beachtet werden, bei ihm Aufmerksamkeit finden und Gegenstand der Teilnahme oder Wissbegier weiterer Kreise sind, gehören dahin. Zu ihnen muss man Sportgrößen, wie bekannte Fußballspieler, vermöge der ihnen geschenkten Beachtung jetzt sicherlich zählen.“

Nach 1918 wurde der Fußball zur Massenbewegung

Ein Fußballer als „Figur der Zeitgeschichte“ – eine solche Begründung wäre 1912, als Harder aus Braunschweig nach Hamburg kam, noch undenkbar gewesen. Erst in der Weimarer Republik, die vor 100 Jahren, am 9. November 1918, ausgerufen wurde, wuchs der Sport und insbesondere der Fußball zu der Massenbewegung heran. All das, was den modernen Fußball bis heute darstellt, seine Kommerzialisierung, die hohe Aufmerksamkeit in den Medien, der Fokus auf einzelne Stars und auch seine Instrumentalisierung, wurde strukturell in den 1920er-Jahren geschaffen. Große Hamburger Vereine wie der AFC Altona 93, der FC St. Pauli von 1910, bis ins Jahr 1924 die Fußballabteilung des Hamburg-St. Pauli Turnvereins von 1862, und der HSV, der formal am 2. Juni 1919 aus einer Fusion der drei Vereine SC Germania von 1887, Hamburger FC von 1888 und FC Falke 06 entstand, und hanseatische Stars wie Adolf Jäger (Altona 93/18 Länderspiele/11 Tore) und Harder (15 Länderspiele/14 Tore) spiegeln diese stürmische Popularisierung des deutschen Fußballs auf lokaler Ebene.

Die Mitgliederzahlen des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) verdeutlichen, in welch atemberaubendem Tempo die Popularisierung des Sports nach dem „Großen Krieg“ verlief. 1914 hatte der DFB noch nur rund 190.000 Mitglieder. Nach Kriegsende steigerte sich diese Zahl trotz aller Opfer bis zum 1. Januar 1920 auf 470.000, ein Jahr später auf 750.000 Mitglieder. 1931 überstieg sie die Millionengrenze. „Nicht die politischen Parteien, nicht die Kirche verschiedener Observanzen, nicht die Maschinengewehre der Weißen, Grünen, Roten, auch nicht die Schlagworte der Demagogen können nur annähernd mit der Zugkraft unseres Sportes rivalisieren“, jubelte Walther Bensemann, der 1920 das Fachmagazin „Kicker“ gründete, in der Euphorie grenzenlosen Wachstums.

Die SA entstand als Sportabteilung

Der Fußball profitierte besonders davon, dass viele Soldaten, die von der Westfront zurückströmten, das Spiel schon aus dem Krieg kannten. Wie der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber 2007 in seiner Dissertation „Vom Schützengraben auf den grünen Rasen“ berichtet, hatte sogar ein regelrechter Ligabetrieb an der Westfront existiert. Auch die beiden Hamburger Heroen Jäger (1889–1944) und Harder (1892–1956) trafen sich, wie der Harder-Biograf Roger Repplinger berichtet, 1915 zufällig hinter der Westfront in Flandern wieder, ein Jahr nach ihrem gemeinsamen Einsatz in der Nationalmannschaft in Amsterdam gegen die Niederlande (4:4). Und spielten Fußball, wie viele Frontsoldaten auch, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Popularität des Fußballs an der Front erklärt die massive sportpolitische Flankierung des Spiels nach der deutschen Kapitulation im Herbst 1918. Nur wenige Wochen nach der „Deutschen Revolution“ beauftragten das Kriegsministerium und die Arbeiter- und Soldatenräte die Sportartikelindustrie, schleunigst massenhaft Fußbälle zu produzieren, um die gelangweilten Soldaten bei Laune zu halten. Und dann wurde tatsächlich allen Garnisonen, in denen Regimenter lagen, das Fußballspiel befohlen. Wenn man so will: Angetreten zum Elfmeter!

Die vielen rechten Freikorps, die sich von 1919 an aus den zurückströmenden Soldaten bildeten, warben ebenfalls ausdrücklich um „Sportsleute“. In der Hamburger Zeitschrift „Turnen, Spiel und Sport“ schalteten die in Hamburg operierenden Freikorps „Hülsen“ und „Schleswig-Holstein“ entsprechende Anzeigen, um Soldaten, die an der Front Fußball gespielt hatten, an sich zu binden. Der „Soldatensport“, wie ihn der Satiriker Kurt Tucholsky 1920 verächtlich nannte, ersetzte auf diese Weise den militärischen Drill. Nach der These der Historikerin Christiane Eisenberg war die massive militärische Förderung des Sports nach 1918 nichts anderes als eine „Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln“. Sie verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die SA, später als „Sturmabteilung“ die Kampftruppe der Nationalsozialisten, im Jahr 1920 als „Turn- und Sportabteilung“ gegründet worden war.

Beim Arbeiterfußball wurden die Torschützen nicht erwähnt

Auch die deutsche Außenpolitik versuchte bald, den Fußball für ihre Zwecke zu ­instrumentalisieren. Bei dem ersten Länderspiel nach dem Krieg, das am 27. Juni 1920 in Zürich stattfand, ging es daher nicht um Tore oder Punkte. Vielmehr war dieses Länderspiel gegen die neutrale Schweiz ein Instrument, um den Boykott der Siegerstaaten gegen den Kriegsverlierer Deutschland aufzubrechen. Mit 7000 Reichsmark bezuschusste die Reichsregierung daher die DFB-Expedition. In der Vorbesprechung nahmen DFB-Kapitän Jäger und Harder erstaunt zur Kenntnis, dass der politische Auftrag in einer „vornehmen Spielweise“ bestand. Daraufhin verlor die DFB-Auswahl sensationell hoch mit 1:4 Toren, Jäger erzielte das Ehrentor. Im ganzen Spiel leisteten sich die deutschen Spieler, dem staatlichen Auftrag folgend, nur zwei Fouls. Was wohl einen ewigen Rekord in der deutschen Länderspielgeschichte darstellen wird.

Der wichtigste Treiber der Popularisierung des Fußballs aber war die Kommerzialisierung, die sich nach 1919 in der rasant wachsenden Sportpublizistik äußerte. 1920 erschienen bereits 160 Sportzeitschriften in Deutschland, 1927 waren es rund 500, auch etablierten sich Sportressorts in seriösen Blättern wie der „Vossischen Zeitung“. „Die Sportberichterstattung in der Presse schuf den Erwartungshorizont, in dem Veranstaltungen zur Attraktion wurden – und umgekehrt: Schnelle, hautnahe Information über das Sportgeschehen wurde zum Mittel im Kampf um Zeitungskäufer“, schrieb der Kulturhistoriker Kaspar Maase. „Der Aufbau von Stars lieferte der Unterhaltungsindustrie Markenzeichen, um ihre Produkte aus der Masse des Gleichartigen herauszuheben.“

Arbeiterclubs verloren ihre Stars an die Bürgerlichen

Der Durst der Sportleser nach Informationen über die Fußballstars betraf auch den Arbeiterfußball, der bis 1933 eigene deutsche Meisterschaften ausspielte. „Wir kennen keinen Personenkultus“, proklamierte die Arbeiterzeitung „Freie Sportwoche“ 1925 zwar. Aber das Prinzip des Arbeiterfußballs, die Namen der Spieler in den Spielberichten nicht zu nennen, sondern nur die Positionen („Mittelstürmer erzielt 1:0“), warf die Zeitung „Fußball-Stürmer“ im Jahr 1932 dann doch über den Haufen. Auch ließen sich prominente Arbeiterfußballer wie der Münchner Alfons Beckenbauer, ein Onkel des späteren Weltstars, oder „Old“ Erwin Seeler (1910–1997), der mit dem Hamburger Club SC Lorbeer 06 zweimal die Arbeitermeisterschaft gewann, von der bürgerlichen Konkurrenz abwerben.

Als sich der Vater Uwe und Dieter Seelers Anfang 1932, also inmitten der Weltwirtschaftskrise, gemeinsam mit seinem Kollegen Alwin Springer vom SC Victoria mit einer Wohnung in Eppendorf und etwas Honorar zu einem Wechsel ins bürgerliche HSV-Lager locken ließ, sorgte das für ätzende Kommentare in der Arbeiterpresse. „Ob ihnen der Hochmutsfimmel zu Kopf gestiegen ist, oder ob finanzielle Vorteile winken?“, fragte das sozialdemokratische „Hamburger Echo“.

HSV-Star Harder wurde KZ-Aufseher

Das enorme Zuschauerinteresse hatte schon zu Beginn der 1920er-Jahre einen Boom des Stadionbaus befeuert. Zumeist finanziert von den Kommunen und aus Mitteln der Arbeitslosenfürsorge entstanden neue „Kampfbahnen“, wie sie meistens hießen, so in Schalke, Köln, Hannover, Frankfurt oder Nürnberg. Der Platz am Hamburger Rothenbaum, der 1911 eingeweiht worden war, wurde zu Beginn der Weimarer Republik sukzessive ausgebaut, bis er 1922 ein Fassungsvermögen für 30.000 Besucher besaß. Das waren nur logische Schritte angesichts der stürmischen Popularisierung des Fußballs. Fußballpioniere wie Harder und Jäger benötigten schließlich diese großen Bühnen, um ihre Künste am Ball, die inzwischen in die Zeitgeschichte eingingen, dem größer werdenden Publikum vorzutragen.

Harders Geschichte hatte dagegen kein Happy End. Nach seiner Karriere war er Aufseher in verschiedenen Konzentrationslagern, 1947 wurde er, der 1932 in die NSDAP und 1933 in die SS eingetreten war, dafür von den Briten als Kriegsverbrecher verurteilt. Der HSV schloss sein Mitglied vorübergehend aus. Weihnachten 1951 wurde Harder vorzeitig aus dem Zuchthaus Werl in Westfalen entlassen. Bei seiner Rückkehr wurde er vom HSV und seinen Anhängern frenetisch gefeiert, berichtete der Historiker Nils Havemann.