Hamburg. Deutschlands zweitbeste Tennisspielerin Julia Görges erklärt, wie 2018 das beste Jahr ihrer Karriere werden konnte.

Zum letzten Kraftakt in der erfolgreichsten Saison ihrer Tenniskarriere ist Julia Görges nach China gereist. In Zhuhai wird von Dienstag an bis 4. November die B-WM mit zwölf Teilnehmerinnen ausgetragen, die 29-Jährige aus Bad Oldesloe geht als Titelverteidigerin an den Start. „Noch einmal sechs Tage alles aus mir herausholen, dann kann ich in Ruhe die Saison analysieren“, sagt Görges. Ein erstes Fazit zieht sie schon in diesem Gespräch.

Frau Görges, in Singapur wird an diesem Wochenende bei den WTA-Finals die inoffizielle Weltmeisterin gekürt. Wie viel Wehmut ist dabei, wenn Sie dort hinschauen im Wissen, dass Sie auch das Potenzial haben, zu den Besten zu zählen?

Julia Görges: Gar keine. Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich erreicht habe in diesem Jahr. Es wäre zu viel gewesen, wenn ich es direkt nach Singapur geschafft hätte. Die erneute Qualifikation für die B-WM spiegelt das wider, was ich über das Jahr hinweggesehen geleistet habe. Dinge passieren aus gutem Grund. Ich glaube, dass es gut ist, dass mir noch Luft nach oben bleibt.

Sie sind Anfang des Jahres erstmals in die Top Ten der Welt eingezogen, standen zuletzt auf Rang neun, aktuell auf 14. In Wimbledon spielten Sie erstmals in Ihrer Karriere im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers. War das der Moment, an dem Sie wussten: Jetzt bin ich in der Weltspitze angekommen?

Diesen einen Moment gab es nicht für mich, es war eher ein Prozess. Im Rückblick muss ich sagen, dass der Ende 2016 begonnen hat, als ich mich mit meiner tschechischen Partnerin Karolina Pliskova im Doppel für das WTA-Finale qualifiziert hatte. Damals konnte ich die Luft der Weltspitze schnuppern und habe im Vergleich mit einer Topspielerin wie Karolina gesehen, dass ich eigentlich gar nichts anders mache als sie, dass ich dazugehöre, mir aber Erfahrung fehlt. Daraus habe ich die Lehre gezogen, mich mehr aufs Einzel zu fokussieren, und das hat mich entscheidend vorangebracht.

Als entscheidenden Schritt haben Sie den Wechsel von Hannover nach Regensburg zu Ihrem heutigen Trainer und Manager Michael Geserer vor drei Jahren genannt. Warum brauchte es diesen Orts- und Perspektivwechsel, und was hat er bewirkt?

Für mich war der Wechsel entscheidend, weil ich nach den erfolgreichen Jahren mit Sascha Nensel das Gefühl hatte, eine neue Stimme und eine andere Philosophie zu brauchen. Ich wusste, dass ich ein Risiko eingehe, wenn ich meine Komfortzone verlasse. Aber mit dem Wechsel habe ich mich geöffnet und mir die Chance gegeben, mich zu entwickeln. Es war ein gesunder Prozess, den ich Schritt für Schritt gegangen bin, und alle Schritte waren natürlich und nicht erzwungen.

Tatsächlich waren Sie in jungen Jahren, als Sie 2010 Ihr erstes Turnier gewannen, oft unnahbar, wirkten wenig kritikfähig und sehr verbissen. Heute strahlen Sie eine Gelassenheit und Positivität aus, die sehr angenehm wirkt, Sie sind aber trotzdem erfolgreicher. Wie erklären Sie sich das?

Diese Positivität kommt durch mein Team. Es gibt keine negativen Tage mehr, und das überträgt sich auf mich. Ich habe das anfangs nicht verstanden, habe zu viel auf mich geschaut. Als junge Spielerin will man Erfolg um jeden Preis und realisiert gar nicht, wie schön das Leben ist und wie privilegiert man als Tennisprofi lebt. Das Wichtigste für mich war, dass ich gelernt habe, mit meinem Leben glücklich zu sein. Wir haben, anders als viele andere Sportler, jede Woche eine neue Chance, einen Titel zu gewinnen. Deshalb versuche ich, aus Niederlagen das Positive mitzunehmen, anstatt ständig an mir herumzumäkeln und mich davon herunterziehen zu lassen.

Zwischen Ihrem Triumph in Stuttgart 2011 und dem in Moskau 2017 lagen sechseinhalb Jahre ohne Titel. Wie oft haben Sie in dieser Zeit den Mut verloren oder gar aufgeben wollen?

Aufgeben wollte ich nie. Aber in dieser Zeit den Fokus zu behalten, das war nicht immer leicht. Ich wusste, was in mir steckt, habe aber keinen Weg mehr gefunden, es abzurufen. Dazu kamen Verletzungen, die mich zurückgeworfen haben. Dann kam der Wechsel nach Regensburg, seitdem ging es stetig bergauf. Heute fühle ich mich fit wie nie, was auch ein Verdienst meines Physiotherapeuten Florian Zitzelsberger ist. Es ist aber auch eine Frage der Einstellung.

Das müssen Sie erklären.

Körperliche Gesundheit steht im Zusammenhang mit dem seelischen Befinden. Dadurch, dass ich gelernt habe, negative Erlebnisse wie Niederlagen positiv zu nutzen, geht es mir auch körperlich besser. Und ich habe auch eine andere Einstellung zum Spiel an sich. Ich habe gelernt, dass keiner fragt, wie man gewonnen hat, sondern dass es nur darum geht, dass man gewinnt. Also gebe ich mir in jedem Match die Chance zu gewinnen, ohne dass es perfekt sein muss. Wimbledon war das beste Beispiel. Mein bestes Tennis habe ich da vielleicht in zwei Matches gezeigt, trotzdem habe ich es bis ins Halbfinale geschafft. Darauf kommt es an, und das hat mir gezeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Was fehlt Ihnen denn noch, um konstant in den Top Ten zu stehen und auch einen Grand-Slam-Titel zu holen?

Das wichtigste Element dazu ist Erfahrung, und die sammle ich gerade. Als ich in Wimbledon im Halbfinale gegen Serena Williams ausgeschieden bin, war ich ja nicht chancenlos, aber in den entscheidenden Momenten konnte sie einfach zulegen, weil sie das schon so häufig erlebt hatte. Daran muss ich auch arbeiten. Klar ist, dass noch viel mehr in mir steckt. Ich bin nicht zufrieden mit dem Erreichten. Ich bin zwar stolz drauf, dass ich es geschafft habe. Aber ich will mehr, und ich kann mehr, das ist sicher.

Was also sind die Ziele für 2019?

Die werden wir erst definieren, wenn diese Saison beendet ist und wir eine umfassende Analyse gemacht haben. Und das tun wir auch nicht öffentlich. Aber wir alle spielen für die großen Turniere, da will ich in der nächsten Saison wieder angreifen.

Wie steht es mit dem Fedcup? Seit Jahren zählt Deutschland angesichts der Fülle an starken Spielerinnen zu den Titelkandidaten, geklappt hat es noch nicht. Bleibt das ein Ziel, oder rennt Ihnen da langsam die Zeit davon?

Selbstverständlich bleibt das ein wichtiges Ziel. Ich habe 2008 mein erstes Fedcupmatch gespielt und bin noch immer stolz darauf, mein Land vertreten zu dürfen. Das Potenzial für den Titelgewinn haben wir, wenn alles zusammenpasst. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Generation mit Angelique Kerber, Andrea Petkovic, Sabine Lisicki und mir in ein paar Jahren nicht mehr da sein wird. Deshalb müssen wir dringend neue Talente heranführen.

Wie bitter ist es dann, wenn ein Talent wie Annika Beck mit 24 die Karriere beendet, um zu studieren?

Ich kenne Annika lange und finde es sehr schade, dass sie aufgehört hat. Aber sie hatte viele Verletzungen und dazu ein sehr gutes Abitur, sodass der Schritt, sich aufs Studium zu konzentrieren, hoffentlich der richtige zu ihrem Glück ist.

Die Hamburgerin Carina Witthöft galt ebenfalls als Toptalent, stagniert aber seit Monaten in ihrer Entwicklung. Viele raten ihr, es Ihnen gleichzutun und die Komfortzone zu verlassen. Was raten Sie ihr mit der Erfahrung Ihres eigenen Wechsels?

Dass sie auf ihr Bauchgefühl hört und das tut, was sie glücklich macht. Wenn sie sich zu Hause am wohlsten fühlt, sollte sie nicht weggehen, nur weil ihr das andere raten. Nur wer sich wohl fühlt, wird seine Topleistung bringen. Ich bin zwar sehr glücklich mit meinem Schritt, aber auch ich bin ja nicht ins Ungewisse gegangen. Meine Mutter stammt aus Bayern, ich war früher schon oft hier und kannte deshalb die Gegend. So ein Neustart ergibt nur Sinn, wenn man ihn wirklich will.

Sie sprechen sehr viel von Glücklichsein. Würden Sie sagen, dass der Halbfinaleinzug in Wimbledon der glücklichste Moment Ihres Jahres war, oder sind es andere Dinge, die Sie glücklich machen?

Glücklichsein und Erfolg im Beruf haben nicht unbedingt viel miteinander zu tun. Natürlich setzt es Glückshormone frei, in Wimbledon ein Halbfinale zu spielen oder erstmals in die Top Ten der Welt zu kommen. Diese Momente haben mir bewiesen, dass sich die Mühen lohnen. Aber dass ich dadurch ein glücklicherer Mensch wäre, sehe ich nicht. Ich glaube, dass ich im Urlaub mindestens genauso glücklich bin. Und am glücklichsten bin ich zu Hause.

Darf man daraus schließen, dass Sie nach der B-WM Ihren Urlaub entsprechend in Regensburg verbringen?

Tatsächlich ja! Als Tennisprofi ist man so viel unterwegs, dass es mir guttut, im Urlaub zu Hause zu sein. Ich bekomme Besuch von Freundinnen, verschönere meine Wohnung, mache ganz normale Dinge. Und ich nehme mir die Zeit, die vielen Erlebnisse zu verarbeiten, weil man dazu im laufenden Turnierbetrieb nicht kommt.

Sie feiern in China Ihren 30. Geburtstag. Das ist meist ein Anlass, sowohl zurück als auch nach vorn zu blicken. Haben Sie eine Lebensplanung, oder lassen Sie alles auf sich zukommen?

Ich weiß schon, was ich nach dem Sport machen möchte. Sicherlich liege ich nicht nur auf der faulen Haut. Aber Gedanken an das Karriereende sind noch ganz weit im Hinterkopf, weil ich aktuell ganz präsent in meinem jetzigen Leben stecke. Und in dem tue ich gut daran, von Match zu Match und von Woche zu Woche zu denken. Also zählt jetzt erst einmal nur Zhuhai.