Hamburg. Der HSV und St. Pauli trennen sich nach viel Brimborium im Vorfeld schiedlich, friedlich (und auch reichlich langweilig) mit 0:0. Die Kiezkicker feierten trotzdem

    Das beliebte Fragespielchen nach einem Spielchen, welche der beiden Mannschaften sich nach einem Unentschieden eher als Sieger fühlen darf, war am späten Sonntagmittag im noch immer rappelvollen Volksparkstadion schnell beantwortet. Schiedsrichter Markus Schmidt hatte das höhepunktarme 0:0 zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli gerade erst ein paar Sekunden zuvor abgepfiffen, als die Rollen des enttäuschten (und sogar wütenden) Derbyverlierers und des glücklichen (und sogar feiernden) Derbygewinners eindeutig und unwiderruflich verteilt waren. Die einzige Frage in diesem Zusammenhang, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantwortet war, lautete: Warum eigentlich?

    Während St. Paulis Profis noch immer auf dem Rasen standen und mit den knapp 6000 Anhängern des Kiezclubs feierten und sogar zur La Ola ansetzten, versuchte sich HSV-Sportvorstand Ralf Becker im Bauch des Stadions bereits mit einem ersten Erklärungsversuch. „Es war schon ein ziemlich lahmes Derby. Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt eine klare Torchance für eine von beiden Seiten gegeben hat“, sagte der Manager, der auch mit Selbstkritik nicht sparte: „Da müssen wir schon ehrlich zu uns selbst sein. Das 0:0 in Fürth am Donnerstag war nach dem 0:5 gegen Regensburg noch erklärbar. Aber dieses 0:0 im Derby war zu wenig von uns.“

    6000 St.-Pauli-Anhänger feierten mit La Ola

    Was Becker nicht sagte, aber hätte sagen können: Es war zu wenig von beiden. Zu wenig vom HSV, der mit einem Sieg im Derby das 0:5 von vor einer Woche hätte vergessen machen und wieder auf den zweiten Tabellenplatz klettern können. Und zu wenig vom FC St. Pauli, der die historische Chance ziemlich uninspiriert verstreichen ließ, sich mit dem dritten Erfolg in Serie vor den HSV zu schieben – und den inoffiziellen Titel als Stadtmeister zu verteidigen.

    Nach 90 ernüchternden Minuten musste unter dem Strich festgehalten werden: verdient wäre wahrscheinlich beides nicht gewesen. „Dieses Derby wird wohl nicht in die Geschichtsbücher eingehen“, sagte HSV-Innenverteidiger Rick van Drongelen, der es mit diesem einen Satz ziemlich treffend auf den Punkt gebracht hatte.

    Dabei hatte das Spektakel ein paar Stunden zuvor so vielversprechend begonnen. Anders als befürchtet blieb es in den Nächten zum Sonnabend und zum Sonntag zwischen den Fanlagern überwiegend ruhig (siehe Bericht). St. Paulis Anhänger hatten sich dann am frühen Sonntag – in gemeinsamen Derbyshirts – am Millerntor getroffen, sind an die Landungsbrücken gepilgert und von dort mit der S-Bahn in Richtung Volkspark gefahren. Dort kamen auch die HSV-Fans wenig später geschlossen an, die ihren Fan-Derbysieg bereits vor dem Anpfiff mit einer eindrucksvollen Choreografie feiern sollten. Einziger, aber doch gewichtiger Schönheitsfehler: Bei der Choreo-Botschaft an den Rivalen („Probiert es noch so verzweifeifelt – unsere Größe ist in Stein gemeißelt“) nahmen es die Ultras offenbar nicht so genau mit der Rechtschreibung.

    Nicht so genau nahmen es auch die 22 Protagonisten auf dem Rasen im Anschluss mit dem Fußballspielen. Die seltenen Angriffsbemühungen beider Mannschaften wirkten fast schon verzweifeifelt– oder besser: verzweifelt. „Jeder weiß, dass der HSV sehr kontrolliert spielt. Wenn man da blöd und zu wild anläuft, entstehen hinten Räume für starke Leute“, erklärte St. Paulis Trainer Markus Kauczinski später seinen Matchplan. „Wir haben sehr diszipliniert und konzentriert gespielt.“

    Und vor allem: sehr destruktiv. So hatte der HSV in der ersten Halbzeit zwar fast ausschließlich den Ball, wusste mit diesem Ballbesitz aber wenig bis gar nichts anzufangen. „Der Knotenöffner hat gefehlt“, bilanzierte Torhüter Julian Pollersbeck sehr richtig. „Wir bekommen vorne die PS einfach nicht auf die Straße, die letzte Spritzigkeit fehlt.“

    Die vermisste Spritzigkeit suchte man allerdings auch vergeblich im Spiel des FC St. Pauli. „Nach vorn war es zu wenig. Das ärgert mich, weil mehr möglich gewesen wäre“, gab Johannes Flum zu, der nach sieben Minuten mit einem Schulter-Kopfball so etwas Ähnliches wie die einzige St.-Pauli-Chance des ersten Durchgangs hatte.

    Sahin versuchte es aus 40 Metern

    Und der HSV? Je ein Kopfball von David Bates (25.) und von Fiete Arp (39.), der für Pierre-Michel Lasogga beginnen durfte, aber nur vor und nach dem Spiel für Schlagzeilen sorgte (siehe Bericht auf dieser Seite) – das war’s.

    Wer hoffte, dass in den zweiten 45 Minuten nun alles besser werden würde, der wurde bitterlich enttäuscht. Ein paar Halbchancen hüben und drüben – und schließlich noch ein 40-Meter-Glücksversuch von Cenk Sahin in der Nachspielzeit. Dann war das 100. Pflichtspielderby, das im Vorfeld für so unendlich viele Geschichten gesorgt hatte, tatsächlich ohne eine wirkliche Geschichte zu Ende gegangen.

    Doch nach dem Derby ist ja bekanntlich vor dem Derby. „Zum Glück gibt es ja noch ein Spiel am Millerntor. Das geht bestimmt nicht 0:0 aus“, orakelte St. Paulis Kapitän Flum, während HSV-Kapitän Aaron Hunt an diesem gebrauchten Tag nichts sagen wollte.

    Ziemlich lange 23 Wochen müssen Hamburgs Fußballfans dann aber doch noch warten, um Das-Glas-ist-halb-voll-Fußballer Flum beim Wort zu nehmen. Und so reichte nach einem langen Frage-und-Antwort-Marathon nach dem Hinspiel-Derby ein einziges Wort, um das zu Anfang erwähnte Spielchen nach dem Spielchen endgültig zu entscheiden. „Der Punkt heute fühlt sich gut an“, sagte St. Paulis zufriedener Manager Uwe Stöver. Anders als im Spiel nahm Lewis Holtby zumindest den verbalen Ball gekonnt auf und ergänzte um ein „nicht“: „Der Punkt heute fühlt sich nicht gut an.“

    Als neutraler Beobachter musste man sagen: Herr Holtby hatte recht.

    Seite 2 Leitartikel, Seite 22 Holtbys Ausbruch