Nyon. 18 Uefa-Mitglieder bestimmen den Ausrichter der Fußball-Europameisterschaft. Die Lage ist nicht so eindeutig, wie der DFB es sich erhofft

    Mitunter lohnt der Blick zurück. Wie war das noch, als einst am 6. Juli 2000 in Zürich die WM 2006 an Deutschland ging? Damals standen Boris Becker, Claudia Schiffer, Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Gerhard Schröder, Otto Schily und Rudi Völler auf der Bühne in der Messe und drückten beide Daumen. Um 14.07 Uhr sprach Fifa-Präsident Joseph Blatter die berühmten Worte: „The winner is Deutschland.“

    Wie erst sehr, sehr viel später herauskam, hat eher weniger das kollektive Daumendrücken nachgeholfen, sondern möglicherweise Geldströme über Katar, von denen bis heute niemand ausschließen kann, dass sie die Wahl beeinflussten. Denn es war ja denkbar knapp: Mit 12:11 Stimmen entschied sich das 24-köpfige Fifa-Exekutivkomitee im dritten Wahlgang für die deutsche Bewerbung. Südafrika, vier Jahre später an der Reihe, hatte als Favorit gegolten, doch dann enthielt sich der Neuseeländer Charles J. Demp­sey. Die Hintergründe wurden nie ganz aufgeklärt, der Ozeanien-Delegierte verstarb vor zehn Jahren.

    Allein diese Episode belegt, wie sehr Enthaltungen eine solche Wahl beeinflussen können. Es gibt Beobachter, die vor der Entscheidung zur Euro 2024 heute (ab 14.30 Uhr, Sky Sport News HD) in Nyon (Schweiz) irritiert sind, dass die Europäische Fußball-Union Uefa kurzfristig das Wahlprozedere verkündete – und dabei zwischen Deutschland und der Türkei die Möglichkeit einer Enthaltung einräumte.

    Der Türkische Fußball-Verband (TFF) wollte schon die EM-Turniere 2008, 2012 und 2016 ausrichten – und beim letzten Mal fehlte gegen Frankreich nur eine Stimme. Die Argumente sind geblieben: Die Erschließung neuer Märkte gen Osten, eine bedingungslose Unterstützung durch die Regierung, ein fußballverrücktes Land. Der Evaluierungsbericht der Uefa hat die Mängel benannt: vom Umgang mit den Menschenrechten, der Wirtschaftslage bis hin zu den Schwierigkeiten beim Umbau des Atatürk-Stadions in Istanbul, in dem 2020 das Champions-League-Finale stattfinden soll. Aber im Prüfbericht steht eben auch: „Insgesamt präsentiert der Bewerber eine inspirierende, attraktive und qualitativ hochstehende Vision.“ An derselben Stelle heißt es über Deutschland: „Insgesamt präsentiert der Bewerber eine inspirierende, kreative und sehr professionelle Vision.“ Wo ist der Unterschied?

    Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) stünde vor einer Zäsur, sollte ein „Leuchtturmprojekt“, wie es Präsident Reinhard Grindel nennt, kippen. Der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete hat indes national und international nur noch wenige Fürsprecher. Der größte deutsche Sportverband arbeitet seit diesem Jahr zwar in einer neuen Organisationsstruktur, die 400 Mitarbeiter auf vier Direktionen verteilt, aber der Drahtzieher dieser Reform, Generalsekretär Friedrich Curtius, hat sie indirekt infrage gestellt, ginge die EM 2024 an die Türkei. Erhält Deutschland das Recht, das zweite Mal nach 1988 eine EM auszurichten – damals noch mit acht Teams, jetzt sind es 24 – wäre es jener Rückenwind, der nebenbei zum Durchlüften genutzt werden kann. Schließlich will sich gerade die zu errichtende Akademie, ein 150-Millionen-Projekt, besonders innovativ und kreativ zeigen. Die Spannung bei den DFB-Oberen steigt, weil sie wissen, was auf dem Spiel steht.

    Die Lage im schwer durchschaubaren Uefa-Zirkel ist offenbar nicht so eindeutig pro DFB wie viele glauben. Es soll unter den 18 stimmberechtigten Exekutivmitgliedern einige geben, die den Prüfbericht gar nicht gelesen haben. Vermutlich hatte Joachim Löw recht, als er kürzlich sagte: „Ich glaube, wir gehen mit einem leichten Vorsprung in die nächste Woche.“