Hamburg. 30 Vereine zeigen dabei ihr Tanzprogramm. Natalia Paul und Chris Icon lehren einen ganz speziellen Stil.

Der Bruder: erstochen. Der Vater: erschossen. Das Leben in den Gettos von Jamaikas Städten ist gefährlich. Besonders in Spanish Town im Südosten des Landes und besonders für junge Männer. Dort ist auch Leroy Campbell (34) geboren und aufgewachsen. Mit Anfang 20 verließ er seine Heimat, kam 2007 nach Deutschland zu Verwandten in Hannover und begann zu professionalisieren, was er seit seiner Kindheit am liebsten tat, und was ihm über die Dramen und Kümmernisse des Lebens hinweggeholfen hat: Tanzen.

Heute trägt Campbell den Künstlernamen Chris Icon, lebt in Hamburg, ist gerade Vater geworden und kann von seinen Jobs als Fitnesstrainer und Tanzlehrer gut leben. Zusammen mit Lebensgefährtin Natalia Paul (34), Mitinhaberin der Tanzetage in Wellingsbüttel, gibt er Anfang November beim Internationalen Hamburger Sport Kongress Workshops. Tritt das Paar als Iconic Dancers Duo auf, tanzt es hauptsächlich Dancehall, eine aus Jamaika importierte Stilrichtung. Die vor allem Jugendliche ansprechenden Bewegungen und Posen gehören wie Hip-Hop und House ins Konzept der am Freitag beginnenden europäischen Sportwoche mit dem Schwerpunkt Tanz. Organisiert vom Verband für Turnen und Freizeit (VTF) präsentieren 25 Vereine in Hamburg „Style und Move“ zum Kennenlernen (siehe Infokasten).

Aggressive Mischung

„Tanzen gehört zur jamaikanischen Kultur“, sagt Icon. Party machen, chillen und Happy Music – spätestens seit Bob Marley kennt man auch in Europa Rastalocken und Reggae. Sie prägten das möglichst regelfreie Flower-Power-Gefühl der 70er-Jahre. „Dancehall ist die kleine Schwester des Reggae“, erklärt Icon den Rhythmus. Weil Cia, die erst zwei Wochen alte Tochter, im mitgebrachten Tragekorb gerade eingeschlafen ist, zeigen die Eltern auf dem Tanzboden im Kulturhaus Eppendorf, dort wo sie auch unterrichten, wie sie Dancehall norddeutsch interpretieren: sexy Posen und schnelle Schrittkombinationen, die den ganzen Körper einbeziehen. „Die ganz krassen Sachen machen wir allerdings nicht“, sagt Natalia Paul, der man die Geburt ihres Kindes kaum noch ansieht.

Die Tanzwoche

Inhaltlich sind Reggae und Dancehall oftmals eine aggressive Mischung aus Sex, Gewaltverherrlichung, aber auch Schwulenhass. Einige Stars der Szene wurden wegen homophober Texte in der Vergangenheit in Europa mit Auftrittsverboten belegt. „Diese intolerante Haltung hat historische Gründe, stammt noch aus der Sklavenzeit“, sagt Icon. „Natürlich ist das keine Entschuldigung, aber es hilft vielleicht zu verstehen. Sexuelle Gewalt an Männern war damals vor allem in den Gefängnissen normal. Daraus hat sich ein Männerbild entwickelt, das sich über die Generationen vererbt hat. Inzwischen versucht man in meiner Heimat, durch Bildung und Aufklärung die Menschen zu verändern.“

„Ich war der Clown, der tanzte“

Paul und Icon sehen sich in diesem Wissen die Musikstücke genau an, die sie in ihren Workshops benutzen. Auch, weil sie Kinder in ihren Tanzklassen haben. Urban Style ist als Richtung schon bei den Kids gefragt. „Es gibt fast immer eine saubere Version dieser Musik“, sagt Paul. „Klar, dass wir die für unseren Unterricht benutzen.“ Vor drei Jahren haben sie sich kennen- und lieben gelernt: die Bankkauffrau und Tanzpädagogin aus Höxter in Nordrhein-Westfalen, deren Eltern als Russlanddeutsche vor 14 Jahren aus Kirgisistan nach Deutschland auswanderten, und der Überlebenskünstler aus der Karibik, der schon als Achtjähriger in einem Schuhgeschäft verkaufte, um seine Mutter finanziell zu entlasten. Sie hatte einen Workshop von ihm gebucht, er sah sie und wusste sofort: „Das ist meine Traumfrau.“ Doch bis sie sich als Paar fanden, verging ein weiteres Jahr. Er wurde zwar ihr Tanzpartner für den von ihr unterrichteten Urban Dance, doch private Gefühle ließ sie erst später zu.

Vor zwei Jahren sind sie zusammen nach Jamaika gereist. Dorthin, wo er schon als kleiner Junge seinen Weg gefunden hatte, um nicht kriminell zu werden. „Ich war der Clown, der tanzte“, sagt Icon, „ich hatte sogar einen Manager, der für mich und die Band, zu der ich gehörte, Auftritte und Shows besorgte.“ Dass bei einem Leben zwischen Auftritten und Kinderarbeit die Schule auf der Strecke blieb, war fast logisch. Schon der Vater, ein Metzger, hatte den Sohn früh zur Mithilfe herangezogen. „Nach seinem Tod musste meine Mutter vier Kinder durchbringen“, sagt Icon. „Ich habe früh gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen.“

Reise in die Vergangenheit

Für Natalia Paul war die Reise in die Vergangenheit ihres Lebensgefährten das Eintauchen in eine fremde Welt. „Manchmal war ich die einzige weiße Frau unter Menschen mit dunkler Hautfarbe“, sagt sie politisch korrekt. Mitgenommen hat sie aus der Zeitreise vor allem eines: Partymachen auf Jamaikanisch heißt Ausdauer haben müssen. Clubs, wie sie in jeder deutschen Stadt zu finden sind, gibt es kaum. Getanzt wird immer und überall. Man zieht von Freund zu Freund, von Ort zu Ort. „Überall gibt es zu trinken und zu essen. Gute Laune ist garantiert“, sagt Icon.

Dass diese selbstbewusste Frau kein Problem damit hat, sich tänzerisch als Sexobjekt zu gebärden, wird im Gespräch schnell klar. Paul ist eine Macherin, die weiß, was sie will. „Ich habe wie Chris schon als Kind getanzt“, erklärt sie. Zwar hat sie den Eltern zuliebe zuerst einen ordentlichen Beruf gelernt und zehn Jahre in der Sparkasse Höxter gearbeitet, doch dann verwirklichte sie ihren Lebenstraum, zog nach Hamburg und ließ sich an der Lola-Rogge-Schule zur Tanzlehrerin ausbilden. Mit Janet Schuldt machte sie sich vor vier Jahren mit der Tanzetage selbstständig.

Inzwischen ist das Iconic Dancers Duo auch individuell erfolgreich. Paul ist Mitglied der bekannten Hamburger Dancehall-Gruppe Chefboss, die auch beim Hurricane-Festival auftreten. Icon war bei der Echoverleihung dabei, tanzte für Mark Foster, der in der Kategorie „Künstler Pop national“ ausgezeichnet wurde. „Ich war der Typ mit dem gelben T-Shirt“, sagt Icon. „The happy man“.