München. Vor dem ersten Spiel nach dem WM-Aus präsentiert Bundestrainer Joachim Löw eine neue Spielphilosophie: hinten dicht, vorne torgefährlich

    Joachim Löw wurde geblendet. Der Bundestrainer hielt sich die Hand vor die Augen, als er im Vorfeld des Länderspiels gegen Frankreich an diesem Donnerstag in der neu gegründeten Nations League (20.45 Uhr/ZDF) zur Öffentlichkeit sprach. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Dann aber sagte der 58-Jährige, wonach das gekränkte, ehemalige Weltmeisterland seit dem blamablen Sommer in Russland verlangt: „Wir sind gewillt, ein völlig anderes Gesicht zu zeigen.“ Er spüre bei seinen Spielern, eine „positive Ungeduld“, die Dinge wieder geraderücken zu wollen.

    Wie das neue Gesicht der deutschen Nationalelf aussehen soll, beschrieb Löw nicht genau. Nur, dass der zurückgetretene Mesut Özil nie mehr dazugehören werde. „Das Thema ist abgeschlossen“, sagte Löw und eine Rückkehr des Spielgestalters nicht mehr vorstellbar.

    Aber der Bundestrainer ließ durchaus durchblicken, dass das Gesicht seiner Nationalmannschaft künftig stärker nach hinten auf die Abwehrarbeit schauen wird. Bei der Weltmeisterschaft hatte dafür noch völlig der Blick gefehlt. Löw hatte sich dort blenden lassen vom Irrglauben an die eigene Stärke. Jetzt soll das anders und das Primat des reinen Ballbesitzfußballs hinterfragt werden – ohne sich von diesem Stil völlig zu verabschieden. So jedenfalls die Idee.

    Der Neuaufbau der abgestürzten DFB-Auswahl beginnt also hinten: „Wir brauchen eine bessere Balance im Spiel“, sagte Löw. „Wir müssen Anpassungen vornehmen, dass wir nicht mehr in so viele Konter laufen. Und wir müssen das Bewusstsein schaffen, dass wir unser Tor auf Teufel komm raus verteidigen.“ Seine Elf werde aber dennoch auch in Zukunft oft und viel den Ball haben. Er wolle, „dass wir unsere Offensivkraft nicht verlieren. Wir müssen aber unsere Defensive stabilisieren“, sagte Löw.

    Seit seinem zu dünnen Vortrag seiner WM-Analyse in der vergangenen Woche konnte man glauben, der Bundestrainer werde sich und auch seine Elf nicht groß verändern. Gegen Frankreich allerdings wird der erwiesene Offensivliebhaber aller Voraussicht nach einen für seine Verhältnisse üppigen Strategiewechsel vornehmen. Er wird nach Abendblatt-Informationen zurückkehren zu einem deutschen Fußballmythos – nur in einer modernen Ausprägung: dem Vorstopper.

    Seit „Katsche“ Schwarzenbeck 1974 und Guido Buchwald 1990 werden in Deutschland Profis verehrt, die das Spiel des Gegners zerstören. „Staubsauger“ vor der Abwehr werden sie genannt, Abräumer oder Sechser. Sie haben maßgeblich zur Identifikation mit den sogenannten deutschen Tugenden beigetragen: Zweikampfstärke, Härte, Disziplin. Doch im Buchwald-Land gibt es heute keine Buchwalds mehr. Löw hat jetzt zwar sieben Innenverteidiger in seinem Kader, aber keinen einzigen echten defensiven Mittelfeldspieler. Sebastian Rudy soll sich nach seinem Wechsel zu Schalke 04 erst einmal dort eingewöhnen. Emre Can, der beim FC Liverpool überzeugte und nun mit Cristiano Ronaldo für Juventus Turin spielt, ist nicht eingeladen. Ihn sieht man intern als oft noch zu ungestüm.

    Deshalb muss Löw jetzt erfinderisch werden. Er hat sich in seinem Kader umgeschaut, wer die Position vor der Abwehr gegen starke Gegner wie Weltmeister Frankreich übernehmen könnte. Und er ist dabei auf zwei Namen gestoßen: Joshua Kimmich (23) und Thilo Kehrer (21). Der Münchner Kimmich ist ein gelernter, defensiver Mittelfeldspieler, der in Ermangelung von brauchbaren Rechtsverteidigern umgeschult wurde. Nun könnte er auf seine Lieblingsposition zurückkehren, wäre ein moderner Vorstopper, wie Philipp Lahm ihn bei der WM 2014 spielte: passsicher, laufstark und strategisch fähig, die Pass- und Laufwege des Gegners zuzustellen. Er wäre die deutsche Version des französischen Wachhundes N’Golo Kanté. Zwar keine imposante Erscheinung, aber ein unermüdlicher Arbeiter. Weil Löw künftig nicht mehr mit offensiven Außenverteidigern spielen lassen will, könnte Kimmich rechts hinten ein Innenverteidiger ersetzen.

    Ein Wachhund im Rücken zur Absicherung von Toni Kroos

    Der Neu-Pariser Kehrer, der kürzlich für 37 Millionen Euro aus Schalke transferiert wurde, ist eigentlich Innenverteidiger. Er kann in der Abwehr aber auf jeder Position spielen. Bei Schalke setzte ihn Domenico Tedesco in der vergangenen Saison auch zweimal im Mittelfeld ein. Kehrer jedoch ist jetzt erstmals bei der Nationalelf dabei. Löw würde ein Risiko mit ihm eingehen.

    „Wir sind in der Bringschuld, wieder eine positive Stimmung zu erzeugen“, sagte Toni Kroos (28) vor dem mit 68.000 Zuschauern ausverkauften Spiel gegen Frankreich. Er weiß, dass ein „Staubsauger“ dafür nützlich sein kann. Bei Real Madrid genießt der Spielmacher, dass der Brasilianer Casemiro die Defensivarbeit hinter ihm verrichtet. Bei der WM musste Kroos beides erledigen: das eigene Spiel antreiben und die Angriffe des Gegners unterbinden. Er scheiterte daran. Nun könnte er mit einem Wachhund im Rücken als einer von zwei Achtern als offensiverer Mittelfeldspieler in einem 4-3-3-System abgesichert werden. „Casemiro ist ein Typ, den wir bei der Nationalelf nicht haben“, sagte er. Aber: „Ich denke, dass wir neue Lösungen finden. Ich habe da ein gutes Gefühl.“ Dann lächelte Kroos wie einer, der mehr weiß.