Hamburg. Obwohl der Club abgestiegen ist, wird Titz’ Torwartsystem auch im Ausland genau verfolgt. Es ist nicht die erste Taktikrevolution made in Hamburg

    Am Morgen war Christian Titz voll in seinem Element – bis dem HSV-Trainer ein Funkloch in die Quere kam. Der Trainer musste gerade am Telefon zum wiederholten Male über sein ungewöhnliches System mit dem mitspielenden Torwart Auskunft gegeben, hatte über Überbrückungsspieler, abkippende Sechser, Chipbälle und die Positionierung der Achter gesprochen. Dann war kurz Stille. Und als Titz am anderen Ende der Leitung wieder zu hören war, sagte er nur noch: „Am Ende geht es doch nur darum, dass wir eine Fußballidee verfolgen, von der wir der Überzeugung sind, dass sie für uns Erfolg wahrscheinlicher macht.“

    Doch stimmt das überhaupt? Geht es nach all den TTT-Diskussionen (Titz’ Torwarttaktik) nicht längst um mehr?

    Ziemlich genau vor einem Monat war es, als ZDF-Experte Oliver Kahn im Anschluss an die WM in Russland zu einer Grundsatzkritik angesetzt hatte. „Was mir gefehlt hat während des Turniers, war eine Weiterentwicklung“, hatte der frühere Nationaltorhüter gesagt und konkretisiert: „Ich hätte mir beispielsweise gewünscht, dass diese Entwicklung weitergeht, dass der Torwart vielleicht noch mehr ins Aufbauspiel eingebunden wird.“ Und dann sagte Oliver Kahn noch einen Satz, der in Hamburg auch einen Monat später noch gerne gehört wird: „Der Hamburger SV spielt genau das mit Julian Pollersbeck sensationell. Davon haben wir bei der WM ein bisschen wenig gesehen, also der Entwicklung zum Torspieler.“

    Echt jetzt? Ausgerechnet der HSV soll ein Vorbild sein? Ein Prototyp gar?

    „Warum denn nicht?“, stellte Erndtebrücks Ivan Markow am vergangenen Sonnabend die Gegenfrage. Gerade erst hatte seine Mannschaft 3:5 gegen den HSV verloren, hatte die Hamburger dabei am Rand einer Blamage, obwohl ausgerechnet sein Torhüter das zweite Gegentor verschuldet hatte. Und trotzdem stand Markow, der die Trainer-B-Lizenz besitzt, in den Katakomben des Siegener Leimbachstadions und suchte nach den richtigen Worten. „Ich bewundere, was Christian Titz da mit dem HSV macht. Er lässt modernen Fußball spielen, der auch noch attraktiv ist.“ Markow, der das Titz-System auch in der Oberliga probieren will, sprach ohne Punkt und Komma. „Ich bin mir sicher, dass viele Mannschaften Titz’ Torwartsystem in Zukunft kopieren werden.“

    Eine gewagte These, die aber schon zum Teil bewiesen scheint. „Wenn ich im Ausland unterwegs bin, werde ich sehr häufig auf die Titz-Taktik angesprochen. In der Szene wird unsere Spielweise sehr aufmerksam verfolgt“, sagt HSV-Kaderplaner Johannes Spors, der als Chefscout fast alle europäischen Ligen im Blick hat. „Die Idee ist ja, durch den offensiven Torwart einen Spieler mehr im Mittelfeld zu gewinnen. Als Trainer braucht man vor allem viel Mut, um auf diese Taktik zu setzen.“

    Steven Fraser, Scout und Torwarttrainer bei Arsenal London, ist jedenfalls begeistert. „Sehr interessantes Positionierung in Ballbesitz von Hamburgs Torhüter Pollersbeck dieses Wochenende. Ich liebe es“, postete der Engländer via Twitter nach Titz’ erstem Spiel als Cheftrainer beim HSV in der vergangenen Saison gegen Hertha (1:2). Und dann fragte Fraser, wie lange es wohl dauern wird, bis man ein vergleichbares Torwartspiel auch in der Premier League bestaunen könnte.

    HSV-Trainer Titz will auf diese Frage keine Antwort geben. Sein Co-Trainer André Killian sagte aber erst kürzlich: „Ich glaube schon, dass wir in Europa in dieser Saison zwei bis vier Mannschaften sehen werden, die sich ebenfalls an dieses System herantrauen werden. Am Ende wird die Quote entscheiden, ob und wie oft man für das offensive Torwartspiel bestraft wird.“

    Titz selbst ist davon überzeugt, dass sein System mehr Punkte bringen als kosten wird. „Seit ich mit dieser Spielidee spielen lasse, ist bis dato noch nie ein Gegentor durch das vermeintlich erhöhte Risiko des hoch stehenden Torhüters gefallen. Deshalb ist es in meinen Augen ein kalkulierbares Risiko.“ Der Gedanke, der dahinter steht: ein Fehlpass eines hochstehenden Torhüters ist weniger risikoreich als ein ungenaues Zuspiel eines Keepers im eigenen Strafraum. „Ein Gegenspieler braucht nicht selten zwei bis drei Kontakte, ehe er den Ballgewinn verarbeitet hat und zum Torschuss ansetzen kann“, rechnet Titz vor. „Dann wären es immer noch 40 bis 60 Meter bis zum Tor. Dies sollte ausreichen, um ihn durch unsere Abwehrspieler zu stören, und auch unser Torwart bekommt dadurch die Zeit, zurückzusprinten.“

    Arsenals Torwarttrainer ist vom Titz-System begeistert

    Noch größer als der Vorwurf des zu großen Risikos ist allerdings der Dauervorwurf, dass Titz keinen Plan B habe, wenn die Gegner die Torwarttaktik erst einmal durchschaut hätten. „Glauben Sie mir, dass wir verschiede Optionen parat haben – je nachdem, wie unser Gegner reagiert“, relativiert Titz. Und tatsächlich könnten aufmerksame Beobachter die verschiedenen Optionen im Training begutachten. Plan A: Der Gegner zieht sich zurück – und der HSV hat einen zusätzlichen Torwartspieler im Aufbau. Plan B: Der Gegner presst mit der vorderen Linie. Dann sind Pollersbeck und seine Abwehrkollegen angehalten, mit Chipbällen die eigenen Achter in Szene zu setzen. Und Plan C: Das gesamte Gegnerteam presst und rückt vor. Dann soll das Titz-Team das Mittelfeld mit langen Bällen überbrücken und gezielt auf zweite Bälle gehen. „Wir sind vorbereitet“, sagt Titz lediglich. „Allerdings bedeutet das natürlich nicht, dass wir durch das Torwartsystem jedes Spiel gewinnen. Gegen Kiel haben wir es zum Beispiel in der zweiten Halbzeit nicht gut ausgespielt. Deswegen haben wir am Ende verloren.“

    Im zweiten Heimspiel gegen Bielefeld am Montag (20.30 Uhr/live bei Sky) soll sich dieser Fauxpas nicht wiederholen. Aus dem fernen Zürich wird dann auch Ex-HSV-Trainer Thorsten Fink den Auftritt der Hamburger verfolgen. „Ich bin immer noch sehr am HSV interessiert“, sagt der Coach, der mittlerweile die Grasshopper trainiert und schon einmal einer Taktikrevolution made in Hamburg bezichtigt wurde.

    Im Oktober 2011 kam Fink zum HSV – und führte den sogenannten Mittelfeld-Quarterback ein. „Ich glaube schon, dass ich der Erste in der Bundesliga war, der mit abkippenden Sechsern gespielt hat. Die Idee dahinter ist, dass man einen besseren Spielaufbau provozieren will“, sagt Fink, der aber ehrlich zugibt, nicht der ursprüngliche Erfinder dieser Systemvariante zu sein. „Natürlich habe auch ich mir diese Idee irgendwo abgeguckt. Wir Trainer sind doch alles Diebe. Wir klauen Ideen und entwickeln diese mit unserem Team weiter.“

    Bleibt vor dem Spiel gegen Bielefeld nur die Frage, welcher Dieb in dieser Saison als Erster beim HSV zuschlägt?