Berlin. Gina Lückenkemper begeistert mit ihrer Art das Publikum, sie bietet mit dem Silber über 100 Meter die große Show

    Am Morgen nach ihrem großen Triumph wirkt es, als hätte jemand den Stecker gezogen. Gina Lückenkemper sitzt müde in einem Berliner Hotel, die Augen sind ganz klein. „Ich bin platt, ich muss dringend schlafen“, sagt sie. Als ihr Dienstag endete, hatte der Mittwoch schon längst begonnen: Um 2.30 Uhr war sie im Bett. Mit dem Kopf voller Gedanken.

    Gedanken an einen unglaublichen Moment. Im Olympiastadion war die Leichtathletin aus Soest zu EM-Silber über 100 Meter gesprintet. „Von dem Rennen weiß ich gar nichts mehr – außer, dass vor dem Start noch jemand Lückenkemper gebrüllt hat und ich dachte: Yeah. Als ich im Ziel auf die Anzeige schaute und die Deutschlandfahne neben der Zwei aufblinken sah, war alles klar.“ Dann brach es aus ihr heraus: Tränen, Jubel, Freude.

    Später stand sie mit besagter Fahne um die Schultern in den Katakomben des Stadions. Die Augen von Tränen gerötet, die Beine unruhig, als würden sie versuchen, die Emotionen am Boden zu halten. Auf die Frage, wie es ihr gelungen sei, vor 34.000 Zuschauern die Nerven zu behalten, wirft sie sich in Pose und sagt: „Born for the stage.“ Geboren für die Bühne. Sie bricht in lautes Lachen aus. Doch, eindeutig ja: Gina Lückenkemper hat das Potenzial für die ganz große Show. Die junge Frau aus Soest fasziniert die Menschen. Sie liefert auf den Punkt ab, sie sieht gut aus, sie hat Profil und Witz. Sie scheut keine Kamera, spricht unverblümt Dinge an, die sie ärgern oder stören. Manchmal wirkt sie ein wenig burschikos, doch Lückenkemper ist echt, souverän und sympathisch.

    Es ist erst drei Jahre her, da war die Runde derer, die sich bei der WM in Peking für das blonde Mädchen aus Westfalen interessierten, überschaubar. Ihr Name tauchte im Lokalsport auf. Heute ist das anders: Wo Lückenkemper hinkommt, sind die Medien schon da. Selbst wenn sie über so komplizierte Themen wie Neuroathletik spricht, hängen die Menschen an ihren Lippen. Weil sie es auf Gina-Art macht: Es geht um die Aktivierung von bestimmten Hirn­regionen, die sie im Startblock braucht. Dafür leckt sie vor einem Rennen auch schon einmal an einer Batterie. Verrückt, oder?

    Gina Lückenkemper bringt all das mit, wonach sich die Sportfans in Deutschland sehnen. Sie ist erst 21 Jahre alt und schafft es schon jetzt, die Menschen für ihre Rennen an den Fernseher zu locken. Lückenkemper, vor einem Jahr von der LG Olympia Dortmund zum TSV Bayer Leverkusen gewechselt, weckt Erinnerungen an Magdalena Neuner. Obwohl die zwölfmalige Biathlon-Weltmeisterin 2012 ihre aktive Karriere mit erst 25 Jahren beendete und sich aufs Familienleben mit zwei Kindern konzentrierte, ist sie noch heute bekannter als viele Sportlerinnen, die nach ihr kamen und ähnlich erfolgreich waren. Keine war so schillernd, so gut zu vermarkten. Bis jetzt.

    Wie Neuner ist auch Lückenkemper mehr als eine herausragende Sportlerin: Sie ist authentisch, jemand, der für etwas steht. In den sozialen Medien agiert sie auf Augenhöhe mit ihren Fans, mit jungen Menschen, die sich für den Sport begeistern lassen. Und sie taugt auf vielen Ebenen als Vorbild.

    An der Ruhr-Uni Bochum studiert Lückenkemper Wirtschaftspsychologie. Das schafft längst nicht jeder, für die Zulassung benötigt man einen Abiturnotenschnitt von mindestens 1,5. Wenn sie von „zu Hause“ spricht, dann meint Lückenkemper Soest. Dort ist ihre Heimat, ihre Familie – die für sie das Wichtigste ist. Und in Soest steht auch ihr Pferd Picasso, das sie so oft wie möglich besucht. „Als Reitermädchen brauche ich den Stallgeruch“, sagt sie. Seit 2017 hat sie ein neues Projekt. Sie hat eine Patenschaft in Afrika übernommen. Noch immer kommen ihr die Tränen, wenn sie über die Begegnung mit ihrem Patenkind Anabella in Ghana spricht.

    Angst, dass ihr alles eines Tages zu viel wird, hat sie nicht. Ihr Umfeld ist stabil und hat sie aufgefangen, als die mentale Belastung vor der EM, für die sie eines der Gesichter ist, zu exrem wurde. „Meine Eltern werden auch immer darauf achten, dass ich nicht abhebe“, sagt sie.

    Lückenkemper hat bei dieser Europameisterschaft einen neuen Level erreicht. Feierte man sie bei der WM im vergangenen Jahr, weil sie als erste Deutsche seit 26 Jahren die 100 Meter unter elf Sekunden gelaufen war, gelang ihr dies in Berlin gleich in beiden Läufen. Vor Lückenkemper hatte zuletzt Katrin Krabbe eine Zeit unter elf Sekunden geschafft – doch sie und die fünf weiteren, denen das gelungen ist, wurden des Dopings überführt.

    Selbst wenn Lückenkemper niemals Olympia- oder WM-Gold gewinnen wird, weil die Konkurrenz aus den USA oder Jamaika dafür zu mächtig ist: Ihre Leistungen und ihre Art, sich zu präsentieren, können sie dauerhaft zum nächsten deutschen Sportstar machen. Auch wenn ihre Gedanken darum derzeit noch nicht kreisen.