Berlin. Olympiasieger Christoph Harting wirft die Scheibe nur, weil er es kann. Trotzdem will der 28-Jährige noch 2028 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles starten

    Fünf Minuten vor dem verabredeten Termin ist Christoph Har­ting (28) schon da. Das erste Klischee, dass der Diskus-Olympiasieger es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nehme, ist also widerlegt. Im Gespräch stellt sich bald heraus, dass er auch nicht albern ist, wie es manchen nach seinem Olympiasieg 2016 erschien. Harting redet offen über große Ziele, aber auch über seine begrenzte Leidenschaft für den Sport. Nur bei Fragen nach dem Verhältnis zu seinem Bruder Robert bleibt er verschlossen.

    Herr Harting, was haben Sie sich für die EM in Berlin vorgenommen?

    Christoph Harting: Ich will gewinnen. Nach den Weltmeisterschaften 2009 in Berlin ist sie emotional betrachtet das Großereignis der Leichtathletik in meiner Heimatstadt. Von daher hat sie einen hohen Stellenwert. Rational betrachtet bedeutet mir eine EM gar nichts. Für mich zählen nur Olympische Spiele.

    Ihr Trainer Torsten Lönnfors sagt, Sie machen den Sport, weil Sie ihn können. Aber Sie nähmen ihn nicht ernst. Ist das wahr?

    Zu einem gewissen Teil. Ich nehme den Sport genau ernst genug, um ihn professionell treiben zu können. Aber nicht so ernst, dass ich mein Leben oder mein Selbstwertgefühl daran klammern würde. Warum bin ich Diskuswerfer? Ich kann es gut. Ich habe dadurch ein sehr freies und selbstbestimmtes Leben. Aber ist der Sport für mich Berufung? Nein. Ist er Leidenschaft? Diskuswerfen ist mein Beruf. Ich könnte gut ohne Sport leben.

    Klingt fremd von einem Olympiasieger.

    Ich ordne einfach nicht alles dem Sport unter. Das Privatleben geht immer vor. Die Familie ist das Wichtigste.

    Familie ist für Sie wer?

    Meine Eltern, meine Frau und meine Tochter.

    Warum ich nachfrage, ist klar: Das Verhältnis zu Ihrem Bruder Robert gilt als sehr angespannt. Ist es immer noch so, dass Sie sich dazu nicht äußern wollen?

    Genauso ist es. Unseren Eltern zuliebe.

    Ihr Verhältnis zu Torsten Lönnfors scheint dagegen sehr intensiv zu sein.

    Faktisch runtergebrochen, sehe ich meinen Trainer mehr als meine Ehefrau und meine Tochter, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Umgedreht ist es genauso, er sieht mich mehr als seine Frau und seinen Sohn. Das ist wie eine Berufsehe. Man weiß, wie der andere tickt und wächst zusammen.

    Was hat er nach der Siegerehrung bei den Olympischen Spielen in Rio gesagt?

    Er hat gesagt: Das war scheiße.

    Wie sehen Sie im Nachhinein die Siegerehrung? Werden Sie noch damit konfrontiert?

    Tatsächlich sprechen mich fast nur Journalisten darauf an. Die Kontroverse darüber war völlig überzogen. Man wusste einfach nicht damit umzugehen.

    Sie haben getanzt und geschunkelt. Das sieht man nicht alle Tage.

    Ja, ich passte nicht ins Bild, habe nicht geweint oder wenigstens die Hand auf dem Herzen gehabt. Ich stand nicht still. Wie ich das heute sehe? Ich beschäftige mich nicht mehr damit.

    Sie haben sich noch am selben Abend entschuldigt.

    Mir wurde es von höchster Ebene im DOSB nahegelegt. Was ich gern zugebe: Die Pressekonferenz nach dem Olympiasieg war von mir keine Sternstunde der Sympathie.

    Stimmt es, dass es Ihnen sowieso egal ist, was andere Menschen über Sie denken? Oder ist das nur ein Schutzpanzer?

    Absolut egal. Das ist innere Überzeugung. Der Schauspieler Jim Carrey hat einmal gesagt: Man hört auf, sich selbst und sein Verhalten zu erklären, wenn man begreift, dass die Menschen nur von ihrem eigenen Punkt der Wahrnehmung verstehen. Du hast ein Bild von dir selbst, wie du dastehst, wie du handelst, wie du der Meinung bist zu sein. Dieses Bild existiert aber nur in dir. Jeder Mensch auf der Welt nimmt dich anders wahr. Es ist egal, darüber nachzudenken, ob es diesen Menschen gefällt oder nicht. Am Ende des Lebens muss ich mich selbst fragen: Bin ich zufrieden mit dem, wie ich gelebt habe? Bereue ich etwas? Warum soll ich mich so verhalten, dass es anderen Leuten gefällt, obwohl es doch mein Leben ist?

    Und was sagen wir am Ende?

    War geil (lacht)! Natürlich, eine der schönsten Floskeln, die es gibt, lautet: Hinterher ist man immer schlauer. Welcher Mensch würde verneinen, jetzt, mit seinem Wissen, dass er vergangene Dinge anders gemacht hätte. Ich bin selbst­sicher, aber auch kritikfähig und sehr einsichtig. Wenn ich sehe, ich habe etwas falsch gemacht, entschuldige ich mich.

    Stichwort der letzte Versuch. Was fällt Ihnen dazu ein?

    Alles oder nichts.

    In Rio kam alles raus, vor dem Versuch waren Sie Vierter. Wie geht das?

    Es ist ein bisschen das Prinzip Versuch und Irrtum. Du gehst in einen Wettkampf, wirfst dich ein. Der erste Einwerfer ist für mich immer eine Statusabfrage: Was ist da, was funktioniert? Beine, Füße, Oberkörper, Hüfte, arbeitet die Verwringung, habe ich Gefühl, Länge, Geschwindigkeit? Ploppt da irgendein Fehler auf? Wie kriegst du den raus? In den nächsten Würfen musst du sehen, dass du dein Programm möglichst fehlerfrei zum Laufen bekommst. Im letzten Versuch verlasse ich mich dann nur noch auf mein Gefühl. In Rio war es auch so. Dann klappt es, oder es klappt nicht.

    Es hat geklappt, plötzlich Olympiasieger: Was hat diese Goldmedaille verändert?

    Mein Alltag hat sich verändert. Ich muss mir um die Finanzierung von Trainingslagern keine Sorgen mehr machen. Ich konnte mir ganz viele Wurfgeräte kaufen, die ich mir früher leihen musste. Früher musste ich viel fragen, heute kann ich sagen, wie ich etwas haben möchte, und der DLV kommt mir entgegen. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch mit meinem Sponsor läuft die Zusammenarbeit sehr gut, ich sage, so und so hätte ich es gern, und meistens funktioniert das. Es hilft, Olympiasieger zu sein.

    Ihr großes sportliches Ziel ist der zweite Olympiasieg 2020 in Tokio ...

    ... eigentlich die 80 Meter. Das schaffe ich auch schon mit der Ein-Kilo-Scheibe, dem Frauen-Diskus, der landete kürzlich im Training bei 87,86 Metern. Vielleicht schaffe ich es auch mal mit der Eineinhalber, dem Jugend-Diskus. Mit dem Männer-Diskus ist es echt verdammt schwer. Aber ich versuche es. Das nächste Etappenziel dahin ist Tokio. Gold. Nach Tokio Paris 2024. Gold. Nach Paris Los Angeles 2028. Gold.

    Hallo, Herr Harting! Dann sind Sie 38 Jahre alt.

    Ja, ich weiß ja. 38 Jahre ist für den Sport ziemlich alt. Aber L.A. wäre schon toll.​