Berlin. Sprinterin Gina Lückenkemper soll nach dem Abschied von Diskuswerfer Robert Harting die Lücke schließen

    Es ist nur eine kurze Szene, aber sie hat Gewicht. Jürgen Kessing, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, wird nach Robert Harting gefragt. Danach, wer denn nun Nachfolger des Diskus-Stars werden kann, der jahrelang die deutsche Leichtathletik geprägt hat und sich nun bei der Europameisterschaft in Berlin von der großen Bühne verabschieden will. Noch bevor Kessing antworten kann, rührt sich die junge Frau auf dem Stuhl neben ihm. Sie grinst breit, zeigt mit dem Finger kurz auf sich. Es ist nur ein winziger Moment, ein Scherz, ein Augenzwinkern. Sie meint es nicht ernst. Doch man weiß: Es ist lustig, weil es wahr ist.

    Die junge Frau neben dem Präsidenten ist Gina Lückenkemper. Die 21 Jahre alte Sprinterin vom TSV Bayer Leverkusen ist vielleicht noch nicht das Gesicht der deutschen Leichtathletik, ein Gesicht dieser EM ist sie aber allemal. Auf jeder Pressekonferenz ist sie dabei, sie verpasst keinen Werbetermin. In Berlin will sie zu zwei Medaillen sprinten – einmal am Dienstag über 100 Meter, das andere Mal am Sonntag mit der Staffel. In der Stadt hängen genauso Plakate mit ihrem Konterfei wie von dem Berliner Robert Harting. Zwar wird mit ihrem Foto kein Hochhaus am Breitscheidplatz verziert, aber dennoch liegt die Frage nahe: Wird Gina der neue Robert?

    Jürgen Kessing bleibt seinem Amt entsprechend diplomatisch. „Robert wird eine Lücke hinterlassen. Es wird genügend Typen geben, die in seine Rolle hineinwachsen werden.“ Eine Lücke für Lückenkemper? Namen nennt er nicht. Es gibt noch andere Kandi­daten. Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz zum Beispiel, Hindernis-Läuferin Gesa Felicitas Krause oder Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler. So sagt Kessing: „Eine, die es werden kann, sitzt neben mir.“ Er traut Gina Lückenkemper Großes zu – und damit ist er nicht allein.

    Seit ihrem Auftritt 2017 bei der Weltmeisterschaft in London ist Gina Lückenkemper der aufgehende Stern der deutschen Leichtathletik. Als erste Frau seit 26 Jahren lief sie die 100 Meter unter elf Sekunden – die Uhr blieb bei 10,95 Sekunden stehen. Nur sechs Deutsche waren zuvor schneller oder genauso schnell wie die junge Frau aus dem westfälischen Soest – allen sechs wurde Doping nachgewiesen. Gina Lückenkemper kann das Licht am Ende einer dunklen Episode dieser Disziplin sein. Kessings Amtsvorgänger Clemens Prokop sieht sie daher als eine Athletin, „die mit Persönlichkeit, sportlicher Leistung und noch größerem Potenzial auf sich aufmerksam macht“. Das Interesse an der ausgelassenen Blondine ist seit London immens. Sogar Kessing berichtet, wie ihn in seinem Amt als Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen Kinder immer wieder nach Autogrammen von Gina Lückenkemper fragen. „Weil die so toll laufen kann.“ Sie ist ein Vorbild. Allein im sozialen Netzwerk Instagram verfolgen mehr als 80.000 Menschen, was die Sprinterin aus ihrem Alltag preisgibt.

    Die Studentin der Wirtschaftspsychologie ist schlau genug, um diese Aufmerksamkeit zu nutzen. Sie weiß, dass man nicht automatisch Beachtung erfährt, nur weil man schnell rennen kann. Sie bringt alles mit, was man braucht, um aufzufallen: Sie ist schnell, sie sieht gut aus, und sie ist nicht auf den Mund gefallen. Mit teils derber, dafür umso authentischer Wortwahl spricht sie Dinge an, die sie – die auch andere Leichtathleten stören. „Ich habe kein Problem damit, meine Meinung zu sagen“, sagt sie. „Aber ob ich das in dem Umfang machen möchte wie Robert? Das weiß ich noch nicht.“

    Robert Harting stand in seiner Karriere immer für mehr als für einen Olympiasieg, drei WM- und zwei EM-Titel. Er hat sich starkgemacht im Anti-Doping-Kampf, hat sich quergestellt, sich mit wichtigen Funktionären angelegt und mit der Sportlotterie sogar aktiv versucht, etwas an den schwierigen finanziellen Bedingungen in der deutschen Leichtathletik zu verändern. Er hat viel investiert und weiß daher genau: Es kostet Kraft, das Gesicht seiner Sportart zu sein. „Diese enorme mediale Aufmerksamkeit ist auch eine extreme mentale Belastung“, sagt Gina Lückenkemper. „Ich weiß nicht, ob ich mir das schon zutrauen würde.“

    Mit 19 gewann sie EM-Bronze

    Eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn man mit seinen Aussagen auch einmal Gegenwind erzeugt, bekam sie vor wenigen Tagen in Kienbaum. Dort beklagte sie sich darüber, dass von der Deutschen Meisterschaft in Nürnberg kaum Bilder im TV zu sehen waren, dass nicht einmal der
    Live-Stream im Internet richtig funktionierte. Später hielt man ihr diese Kritik vor. Das Argument: Sie solle erst einmal einen großen Titel gewinnen, bevor sie solche Forderungen stelle.

    Man weiß nicht, wie sehr Gina Lückenkemper solche Reaktionen an sich heranlässt. Sie wirkt so stark, sagt, dass sie äußere Erwartungen nicht interessieren. Doch was man bei ihr schnell vergisst, eben weil sie so professionell, so erfahren auftritt: Sie ist erst 21 Jahre alt. „Ich stehe noch immer am Anfang meiner Karriere“, sagt sie und wirkt dabei selbst verblüfft. Zur Erinnerung: Sie war gerade einmal 19 Jahre alt, als sie vor zwei Jahren EM-Bronze über 200 Meter gewann. Ob Gina nun also der neue Robert wird? Die Antwort wird die Zeit geben. Und zwar nicht nur die, die in Berlin gestoppt wird.