London. Vor dem Viertelfinale der Hockey-WM gegen Spanien analysiert Kapitänin Janne Müller-Wieland die Entwicklung der vergangenen vier Jahre

    Am Dienstagmorgen kam ein Zauberer ins Teamhotel der deutschen Hockeydamen am Tower Hill. Nun ist es nicht so, dass Xavier Reckinger der Meinung ist, nur mithilfe magischer Kräfte das WM-Viertelfinale gegen Spanien an diesem Mittwoch (19 Uhr/DAZN) gewinnen zu können. Vielmehr ist der Bundestrainer überzeugt, dass seine Auswahl stets frische Reize benötigt, um ihre geistige Schaffenskraft auf allerhöchstem Niveau abrufen zu können. Und deshalb entschied er, dass ein Zauberer das Richtige wäre, um seinem Team am dritten spielfreien Tag in Serie die Sinne zu schärfen.

    „Genau diese Ideen sind es, die ich am Trainer besonders schätze“, sagt Janne Müller-Wieland. Die Hamburger Kapitänin, Urgestein des deutschen Vizemeisters Uhlenhorster HC, zählt nicht nur gemeinsam mit ihrer Clubkollegin Jana Teschke sowie Anne Schröder und Lisa Altenburg (beide Club an der Alster) zum Mannschaftsrat. Sie ist mit ihren 31 Jahren auch mit Abstand die älteste Spielerin im deutschen WM-Kader – und damit die beste Gesprächspartnerin, um die Entwicklung zu analysieren, die das Team seit der WM 2014 in den Niederlanden genommen hat.

    Dieses Turnier, bei dem die zentrale Abwehrspielerin wegen einer Verletzung fehlte, markiert den Startpunkt für das Umdenken. Der damalige Coach Jamilon Mülders (42) hatte sich bei der Nominierung an den Kriterien seiner Vorgänger orientiert: an Bewährtem festhalten, sicherheitsorientiert denken, anstatt unkonventionelle Ideen einfließen zu lassen. Damit war man zwar bei Olympia 2008 und der WM 2010 ins Halbfinale gekommen, hatte aber auch zweimal Bronze verloren. Der achte Rang bei der WM 2014 sorgte bei Mülders für die Erkenntnis, einen radikalen Neuanfang wagen zu müssen.

    Im Mittelpunkt dessen stand der Mentalitätswechsel, für den Mülders eigens einen Prozesscoach ins Team holte, der in vielen Einzel- und Gruppengesprächen mit allen Mannschaftsteilen interagierte. Die deutschen Damen sollten endlich mit der Überzeugung spielen, jedes Spiel gewinnen zu können, anstatt es nicht verlieren zu wollen. „Wir als Führungsspielerinnen haben die Aufgabe übernommen, den Jungen dieses Denken einzutrichtern“, sagt Janne Müller-Wieland, die seit ein paar Monaten zwischen London, dem Wohnsitz ihrer Partnerin, und Hamburg pendelt. Als man 2016 in Rio das Halbfinale gegen Topfavorit Niederlande unglücklich im Penaltyschießen verlor, war das neue Denken erstmals greifbar. „Wir waren danach zwar sehr enttäuscht, haben aber sofort den Fokus auf das Bronzespiel gerichtet und gesagt, dass wir diese Medaille auf keinen Fall verlieren werden.“ Das gelang: Im Spiel um Platz drei wurde Neuseeland 2:1 besiegt.

    Im Herbst 2017 übernahm Reckinger den Posten von Mülders, der aus finanziellen Gründen nach China wechselte. Der 34 Jahre alte Belgier, der für sein Heimatland mehr als 300 Länderspiele absolvierte, führte das von Mülders implementierte Defensivsystem weiter, setzt aber zusätzlich auf ein mutigeres Offensivdenken, das seine Spielerinnen dazu animiert, maximales Augenmerk auf das Toreschießen zu legen. „,Reck‘ gibt uns viele Freiheiten, lässt uns mitbestimmen. Er kann Teams optimal analysieren, hat ein sehr gutes Gefühl für uns und den Gegner. Unter ihm gehen wir ein anderes Risiko als früher“, sagt Janne Müller-Wieland.

    Entstanden ist daraus die Mischung, die in der WM-Vorrunde bei den Siegen gegen Südafrika (3:1), Argentinien (3:2) und Spanien (3:1) zu beobachten war. Man verteidigt intensiv, ist im Spielaufbau kreativ und im Nutzen der Torchancen effektiv. Kurz: Die Damen spielen erwachsen. Was das für das zweite Aufeinandertreffen mit Spanien innerhalb von vier Tagen bedeutet, dass der neue WM-Modus mit vier Vierer- statt zwei Sechsergruppen mit sich bringt, wird sich heute Abend zeigen. „Für beide Teams ist es ein Vorteil, sich nun besser auf den Gegner einstellen zu können“, glaubt Janne Müller-Wieland, die für den Sporttechnologie-Entwickler Ha²lo arbeitet. „Wir werden Spanien aber sicher nicht unterschätzen, weil wir das Gruppenspiel gewonnen haben. Unser Ansatz ist, dass wir es noch besser machen wollen, weil es sicher nicht unser bestes Spiel war“, sagt sie.

    Harte Arbeit, das wissen alle im Team, wird nötig sein, um den dritten WM-Titel nach 1976 und 1981 nach Deutschland zu holen. Sollte es am Sonntag zum Traumfinale mit den Niederlanden kommen, könnten zudem ein paar Zaubertricks helfen. Aber auch darauf sind sie ja nun vorbereitet.

    Qualifikation zum Viertelfinale: Spanien – Belgien 3:2 (0:0) n. P., Argentinien – Neuseeland 2:0, Italien – Indien 0:3, England – Südkorea. Viertelfinale heute: Deutschland – Spanien, Australien – Argentinien. Donnerstag: Irland – Indien, Niederlande – England/Korea.