London. Angelique Kerber erfüllt sich mit dem Triumph in Wimbledon den größten Karrieretraum. Ohne das Krisenjahr 2017 war das nicht möglich

    Sie sah diese blonde Deutsche triumphieren, damals, Mitte der 90er-Jahre. Steffi Graf gewann 1995 und 1996 ihre Wimbledon-Titel sechs und sieben. Vor dem Fernseher in Kiel hockte ein siebenjähriges Mädchen und schwor sich, auf diesem Rasen einst ebenfalls die Silberschale des Champions in die Luft zu stemmen. Am Sonnabend, um 17.21 Uhr Ortszeit, war Angelique Kerber an diesem Ziel angekommen. Sie war die blonde Deutsche, die triumphierte, die erste in Wimbledon seit Graf 1996. 6:3, 6:3 lautete nach 65 Spielminuten das Ergebnis des Endspiels der 132. All England Championships gegen die US-Amerikanerin Serena Williams (36), mit dem sie sich den größten Lebenstraum erfüllte.

    Am Sonntagmittag saß Kerber in einem der Interviewräume im Pressezentrum. Müde zwar von der vorangegangenen Nacht, die nach Abendessen und Tanz im Soho House erst gegen 4.30 Uhr beendet gewesen war, aber glücklich. Vor allem über die persön­liche Nachricht, die ihr Vorbild Graf ihr geschickt hatte. „Sie hat geschrieben, dass sie sich sehr mit mir freut und dass ich es verdient hätte“, sagte Kerber, die in der Weltrangliste von Rang zehn auf vier kletterte. Am Sonntagabend stand noch das Champions Dinner in der noblen Guildhall an, an diesem Montag fliegt sie per Privatjet nach Posen, um ihre Großeltern zu besuchen. Nach einem „möglichst langen“ Urlaub steht das nächste Turnier im kanadischen Montreal (Start 6. August) an.

    Es bleibt wenig Zeit in den ersten Stunden nach einem Wimbledon-Triumph, um diesen zu genießen, ihn einzuordnen. Nach dem kurzen Sprung in ihre Box, um Cheftrainer Wim Fissette und Mutter Beata zu umarmen, folgte ein Gratulations-Marathon mit dem Höhepunkt, Kate Middleton, Herzogin von Cambridge, und Meghan Markle, Herzogin von Sussex, die Hand schütteln zu dürfen.

    Die beiden Mitglieder der könig­lichen Familie hatten in der Royal Box Williams die Daumen gedrückt in der Hoffnung, die 23-fache Grand-Slam-Siegerin könnte nur gut zehn Monate nach der Geburt ihrer Tochter Alexis Olympia mit ihrem achten Wimbledon-Triumph die Bestmarke der Australierin Margaret Court (24 Majorsiege) einstellen. Nun gratulierten sie artig der Deutschen. „Das war eine große Ehre, sie zu treffen. Das ist es, was Wimbledon besonders macht“, sagte Kerber.

    Die Beziehung zwischen ihr und Wimbledon war anfangs hart gewesen. Als Juniorin gelang ihr wenig, als Profispielerin schaffte sie es bis zum Jahr 2011 nur ein einziges Mal in die dritte Runde. „Die ersten Jahre hier waren kritisch, weil ich mich zu sehr unter Druck gesetzt habe. Wimbledon war das Turnier, was ich unbedingt gewinnen wollte. Entsprechend brauchte ich Anlaufzeit“, sagte sie. Die erste Halbfinalteilnahme 2012 war der Durchbruch, das gegen Serena Williams verlorene Finale 2016 der vorletzte Schritt. Den letzten zu gehen, das war nur möglich, weil sie sich auf einen Neustart einließ.

    Man kann die Geschichte dieses Triumphes nicht erzählen, ohne auf die Saison 2017 zurückzuschauen. „Ohne 2017 hätte ich hier nicht gewinnen können“, sagte Kerber, „ich habe so viel über mich gelernt in diesem Jahr, über mein Leben und das, was mich motiviert weiterzumachen.“ 2016 hatte sie bei den Australian Open ihren ersten Grand-Slam-Titel gewonnen, nach dem verlorenen Wimbledon-Finale in Rio Olympiasilber geholt, und war mit einem Triumph bei den US Open Weltranglistenerste geworden. Die Gejagte zu sein und das Gefühl, die Erfolge unbedingt bestätigen zu müssen – diese Melange aus eigenem Anspruch und der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit war Gift für eine junge Frau, die die Abgeschiedenheit in der Heimat ihrer polnischen Eltern einem Leben im grellen Licht der großen Bühne vorzieht.

    Manchmal vergisst man, dass Angelique Kerber ihre Karriere schon einmal fast beendet hätte. 2011 war das, nach einer Serie von Erstrundenniederlagen. Bei den US Open gab sie sich damals eine letzte Chance, erreichte das Halb­finale – und machte weiter. 2017 war deshalb bereits der zweite gravierende Wendepunkt ihrer Laufbahn. Sie entschied schweren Herzens, ihren langjährigen Cheftrainer Torben Beltz (41) durch den Belgier Wim Fissette (38) zu ersetzen. „Es war wichtig, noch einmal neuen Input und andere Motivation zu bekommen“, sagte Kerber.

    Die wichtigste Lehre, die sie aus den vergangenen Jahren gezogen hat, ist die, dass 2016 zwar nur schwer zu toppen ist, aber noch längst nicht der letzte Höhepunkt ihres Tennislebens gewesen sein musste. Zu diesem Lernprozess gehört auch, dass sie verstanden hat, an den Dingen festzuhalten, die ihr guttun, anstatt zu versuchen, es allen anderen recht zu machen. Bei sich zu bleiben, niemals den Fokus zu verlieren, das ist ihr in diesen 13 Wimbledon-Tagen beispielhaft gelungen.

    Es gab auch in London einen Moment, in dem der Neubau Kerber einzustürzen drohte, im Zweitrundenmatch mit der US-Qualifikantin Claire Liu (18), gegen die sie den einzigen Satz im Turnierverlauf abgab. Da spielte sie ohne Überzeugung, haderte lautstark, jeder konnte die Unzufriedenheit spüren. „Ich wusste: Wenn ich so spiele, würde ich den Titel niemals holen können“, sagte sie. Ihr Kampfgeist rettete Kerber gegen Liu, dann besann sie sich darauf, Fissettes Vorgabe, die Matches aggressiver mitzugestalten und die negativen Emotionen besser zu kontrollieren, umzusetzen. So wie im Finale, das Kerber verdient gewann, weil sie tat, was gegen eine nicht auf Topniveau agierende Williams zu tun war. Sie brachte die Gegnerin ins Laufen, nahm ihr viermal den Aufschlag ab und servierte selbst so stabil, dass es für Williams nur zu einem Break reichte.

    Wie sie ihre drei Grand-Slam-Triumphe einordne, wurde Angelique Kerber noch gefragt. Den ersten in Aus­tralien vergesse sie nie, sagte sie, den in New York deshalb nicht, weil er sie zur Nummer eins machte. „Aber Wimbledon ist das i-Tüpfelchen, das Größte, was es gibt.“ Der Kreis, der Anfang der 90er-Jahre seinen Anfang nahm, hat sich nun geschlossen.