Die Trends der WM: Weniger Ball, mehr Moral, Tränen schon vor dem Anpfiff und vor allem schauspielerische Höchstleistungen

    R wie Russisch Roulette: Alles konnte immer passieren. Das machte den Reiz aus. Und alles meint alles: Deutschland schied erstmals in der Vorrunde aus, England gewann ein Elfmeterschießen und hatte sogar einen Torwart, der sich die Bälle nicht reihenweise selbst ins Tor warf. Die Revolution dieses Turniers war, dass nichts vorher zu berechnen war. Qualität? Taktik? Zweitrangig. Und jetzt lauf, Junge! Diese WM lieferte keine Hinweise darauf, dass nach abkippenden Sechsern und falschen Neunern abkippende Neuner und falsche Sechser nun bald den internationalen Fußball bestimmen werden. Die vier Halbfinalisten traten mit vier verschiedenen Spielsystemen an. Am ehesten lautet der Trend: Wer den Ball hat, verliert.

    U wie Umgangsformen: Werden immer wichtiger. Abzulesen ist dies an Neymar, der sich nach unbestätigten Berichten noch immer schmerzgepeinigt durch Russland kugelt und zwischendurch Elfmeter fordert. Die theatralischen Einlagen waren derartig peinlich, dass kaum ein Tor, kaum eine Vorlage den Akzeptanzverlust des Brasilianers hätte beheben können. Die Botschaft lautet: Wenn die Welt zuschaut und sich der Welt via Social Media sofort mitteilen kann, dann benimm dich ordentlich! Die meisten hielten sich daran: Nur vier Platzverweise gab es (niedrigster Wert seit 1978). Schließlich wird gutes Verhalten belohnt. Über die Fairplay-Wertung zog Japan statt dem punkt- und torgleichen Senegal ins Achtelfinale ein. Dort war gegen Belgien Schluss – was die japanischen Spieler nicht daran hinderte, die Kabine ordentlich durchzufeudeln.

    S wie Standards: Sie machten oft den Unterschied. In Zeiten, in denen selbst kleine Nationen defensiv konkurrenzfähig sind, ist ihnen manchmal nur mit Toren nach Freistößen oder Ecken beizukommen. Am besten in dieser Kategorie: die Engländer (9 von 12). Prozentual noch besser: die Deutschen, die aber nur zwei Tore schossen. Der Freistoßtreffer von Kroos gegen Schweden war wunderschön, wichtig – aber letztlich nutzlos.

    S wie Stars: Das Schicksal Neymars (siehe Umgangsformen) ist beschrieben. Ebenso untröstlich verließen binnen weniger Stunden die Serien-Weltfußballer Lionel Messi (31) und Cristiano Ronaldo (33) die große Bühne. Götterdämmerung am 30. Juni, als Argentinien den Franzosen unterlag und Portugal den Uruguay­ern. Ob es ihre letzte WM war?

    L wie Leiden(schaft): Ein Bild dieser WM lieferte Uruguays Abwehrmann José Maria Gimenez. Das Viertelfinale gegen Frankreich lief noch, aber Uruguay lag zurück und war chancenlos. Bei einem Freistoß des Gegners kurz vor Schluss stand Gimenez weinend in der Mauer. Schon vor dem Spiel gegen Kolumbien erwischte es Serey Dié. Während der Hymne weinte der Ivorer hemmungslos. Er dachte an sein schweres Leben, an den Tod seines Vaters 2004 – und daran, dass er nie für möglich hielt, es so weit zu bringen. Herzzerreißend.

    A wie Assistenz: Der Video-Schiedsrichter feierte seine Premiere. Ein desaströses Chaos war erwartet worden nach dem misslungenen Test beim Confed-Cup. Tatsächlich aber darf die Bundes­liga feststellen, dass der Assistent auch zur Zufriedenheit fast aller Beteiligten eingesetzt werden kann: zurückhaltend und gewinnbringend, meist korrekt. Ausnahme: Einen Fehler von Felix Brych übersieht auch der Kollege. Serbien wütet wortreich.

    N wie Nachspielzeit: Auffällig geriet, dass die Schiedsrichter sich nicht scheuten, verloren gegangene Zeit – entstanden durch den Einsatz des Video-Schiedsrichters, durch Zeitschinden oder viele Tore und Einwechslungen – konsequent nachspielen zu lassen. Vier, fünf, sechs, sieben Minuten waren eher Regel als Ausnahme. Und die Mannschaften nutzten die Chancen, die sich dadurch boten. 19 Treffer fielen jenseits der 90. Minute. Das ermöglichte erinnerungswürdige Dramen: Brasilien entging einer Blamage gegen Costa Rica erst durch Tore in der 92. und 97. Minute. Toni Kroos ließ Deutschland gegen Schweden noch einmal hoffen (95.).

    D wie Dankeschön: Den schwedischen Profi Jimmy Durmaz kannte kaum jemand, bis er gegen Deutschland den Freistoß verursachte, der die Niederlage brachte. Folge: Drohungen und rassis­tische Beleidigungen. Die Mannschaft stellte sich hinter ihn. Tolle Aktion. Bekannter als Durmaz sind Essam El Hadary und Jesus Gallardo auch nicht. Ersterer ist Torwart Ägyptens – und hielt einen Elfmeter. Mit 45 Jahren und 161 Tagen. WM-Rekord. Gallardo fiel auf, weil er gegen Schweden bereits nach 15 Sekunden Gelb sah. WM-Rekord. Und dann wäre da noch Matthias Ginter. Der Gladbacher erlebte seine zweite WM – und spielte erneut keine Sekunde.