Moskau. Das Team von Trainer Gareth Southgate verabschiedet sich voller Stolz von der WM – bei der EM 2020 könnte der Heimvorteil helfen

    Als feststand, dass der Fußball wider Erwarten nicht auf die Insel heimkehren würde, beschlossen die englischen Fans, auch erst einmal dazubleiben. Als sie mehr als eine Stunde nach Spielschluss immer noch sangen „We’re not going home“, waren die russischen Stadionwärter zunehmend in Sorge, dass die vielen Männer in Weiß und Rot – soweit noch bekleidet – diese Drohung wörtlich meinen könnten.

    Doch dann erschien Gareth Southgate noch mal auf dem Rasen, um sich zum zweiten Mal Standing Ovations und Dank abzuholen. Der emotionale Abschied des 47-Jährigen markierte den offiziellen Schlusspunkt der Vorstellung. Das Spiel um Platz drei gegen Belgien am Sonnabend dürfte nur zur ungewollten Zugabe werden, wahrscheinlich mit der Coverbesetzung. Im Lager der Three Lions richtete sich der Blick schon kurz nach der 1:2-Niederlage gegen Kroatien nach vorne – und auf die Frage, was von diesem englischen Sommernachtstraum übrig bleiben wird.

    Die vordergründige Antwort lautet: Liebe. Southgate wird nach dem überraschenden Weiterkommen bis ins Halbfinale als großer Versöhnungstrainer in die Geschichte eingehen: Er hat nach Jahren der gegenseitigen Entfremdung Medien und Mannschaft, Mannschaft und Fans wieder zusammengeführt. Seine Demut, sein Enthusiasmus übertrugen sich auf ein Team, das aus sehr wenig sehr viel machte, sich mit Glück und Geschick in ungewohnte Turniergefilde kämpfte und die sportlich unerfreulichen Jahrzehnte sowie die stümperhaften Leistungen so mancher Vorgänger vergessen ließ. „Es tut weh, aber wir sind alle sehr stolz auf uns“, sagte Kane. „Vor allem ist es schön zu sehen, dass die Fans das England-Trikot wieder mit Stolz tragen können.“

    Marcus Rashford von Manchester United twitterte am Donnerstag: „Danke Boss: Du hast den Glauben und die Liebe an den Fußball zurückgebracht.“ Dem 20-Jährigen waren Gefühle wie diese unter dem eher freudlosen Ergebnisfetischisten José Mourinho im Verein zuletzt etwas abhanden gekommen. Kollege Kyle Walker befand in Anspielung an die täglich schlimmer werdenden Brexit-Wirrungen sogar, die warmen Gefühle in der Heimat hätten nicht nur die Mannschaft, sondern das ganze Land miteinander vereint. „Lasst uns diese Gemeinsamkeit weiter leben“, sagte der Manchester-City-Verteidiger. „England, I love you.“

    Sein Team habe auch fußballerisch „Barrieren eingerissen“, wie der Trainer am Vorabend des Halbfinals betonte. England muss in den nächsten Turnieren kein Elfmeter-Trauma bewältigen und auch keine Angst haben, dass der Torhüter (Jordan Pickford) sich zur Unzeit die Bälle selbst ins Netz legt; man hat sich von den historischen Pleiten emanzipiert. Kanes Selbstbewusstsein wirkte nicht gespielt, als der 24-Jährige davon sprach, dass die junge Elf nun „auf den Geschmack“ gekommen sei, dass man alles dafür tun werde, um „nicht wieder 28 Jahre bis zum nächsten WM-Halbfinale warten“ zu müssen.

    Vielleicht geht es schneller. Bei der EM 2020 profitiert England vom Heimvorteil: Vorrunde, Halbfinale und Endspiel finden in London statt. Bis dahin dürften Stammkräfte wie Kane und Dele Alli, die am Mittwoch nicht entscheidend in Erscheinung treten konnten, mehr Erfahrungen in Champions-League-K.-o.-Spielen gesammelt haben.

    Für die Zukunft setzt der Trainer auf mehr Erfahrung

    Interessante Spieler wie Ryan Sessegnon (Fulham, 18), Phil Foden (Man City, 18), Borussia Dortmunds Jadon Sancho (18) sowie ein halbes Dutzend weiterer Talente werden darüber hinaus die qualitative Substanz des Spiels verbessern und Southgates Einflussmöglichkeiten vergrößern. Gegen die nach dem Seitenwechsel immer stärker ausspielenden Kroaten „fehlten die Optionen auf der Bank“, sagte er in seiner Analyse danach. „Wir konnten den Lauf der Dinge nicht aufhalten.“

    Zum Selbstläufer wird Englands Fußballrenaissance trotz des positiven Momentums dennoch nicht werden. In drei Wochen, wenn die Premier League wieder beginnt, werden sich viele Fans darauf besinnen, dass ihnen die Vereinsjacke doch näher als die England-Shorts sind. Zuschauer und Trainer werden ob der ungeheuren Finanzkraft der Clubs schnell wieder nach den allerbesten Profis rufen und nicht nach dem heimischen Nachwuchs. Im Vergleich mit angehenden Profis in den anderen großen Nationen haben es die Jung-Löwen schwerer, in der zu zwei Dritteln mit Ausländern besetzten Liga zu geregelten Spielzeiten zu kommen.

    Der Entwicklungsstillstand von Rashford bei United verdeutlicht die mangelnde Akzeptanz. Erst wenn sich bei den Eigengewächsen Angebot und Nachfrage zum Vorteil der Nationalmannschaft verbessern, wird England nicht nur vom WM-Endspiel träumen, sondern vielleicht siegen.