London. Angelique Kerber und Julia Görges halten durch ihre Viertelfinalsiege Traum vom deutschen Finale am Leben

    Ungläubig, so als könne sie nicht fassen, was ihr da gerade gelungen war, schlug Julia Görges die Hände vor den Mund. Gerade hatte die 29-Jährige aus Bad Oldesloe ihren ersten Matchball genutzt, um nach 1:57 Stunden Spielzeit die Niederländerin Kiki Bertens (26/Nr. 20) mit 3:6, 7:5 und 6:1 zu besiegen und das erste Grand-Slam-Halbfinale ihrer Karriere zu erreichen. „Es war wie eine Erleichterung. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte und wollte einfach den ­Moment verinnerlichen“, sagte die Weltranglisten-13., nachdem sie ihre Sprachlosigkeit überwunden hatte.

    Nun steht sie also unter den besten vier bei den All England Championships in Wimbledon, und weil die Weltranglistenzehnte Angelique Kerber (30/Kiel) vorgelegt und die starke Russin Daria Kasatkina (21/Nr. 14) innerhalb von 1:29 Stunden mit 6:3, 7:5 niedergerungen hatte, durften auch die Historiker jubeln. Zum ersten Mal seit den French Open 1993, als Steffi Graf und Anke Huber in der Vorschlussrunde standen, schafften es zwei deutsche Damen in ein Grand-Slam-Halbfinale. Der Traum vom zweiten deutschen Wimbledonfinale nach 1931 (Cilly Aussem gegen Hilde Krahwinkel) lebt.

    „Ich bin sehr glücklich, dass ich nach dem ersten Satz die Ruhe bewahrt habe. Dieses Match hat gezeigt, wie sehr ich als Spielerin gewachsen bin“, sagte Görges, die im Halbfinale am Donnerstag auf die 23-fache Grand-Slam-Championesse Serena Williams (36/USA) trifft. Gegen die siebenfache Wimbledonsiegerin, die die Italienerin Camila Giorgi (26/Nr. 52) 3:6, 6:3, 6:4 bezwang, hat Görges alle drei bisherigen Duelle verloren, zuletzt in Runde drei der French Open. Den nötigen Biss, diese Bilanz aufzuhübschen, hat die Wahl-Regensburgerin, die zwecks Kieferschonung seit einigen Jahren mit einer Beißschiene spielt, ohne Frage.

    Kerber und Kasatkina hatten sich zuvor auf dem Centre-Court an ihre Leistungsgrenzen gebracht. Sechsmal hatte die Deutsche zum Matchball serviert, immer hatte die Russin eine Antwort gefunden. Mal mit frechen Stoppbällen, mal dank mit voller Überzeugung durchgezogener Angriffsschläge, einmal sogar mit Glück, als ein Lob Kerbers um Millimeter hinter der Grundlinie landete – bis Kerber mit einer unspektakulären Rückhand auf Kasatkinas schwächere Vorhandseite ihre siebte Chance nutzte und zum dritten Mal nach 2012 und 2016 das Halbfinale erreichte. Gegnerin ist die Lettin Jelena Ostapenko (21/Nr. 12). Die French-Open-Siegerin von 2017 setzte sich gegen die Slowakin Dominika Cibulkova (29/Nr. 33) 7:5, 6:4 durch.

    „Wir haben bis zum Schluss auf sehr hohem Level gespielt. Ich habe versucht, nicht daran zu denken, dass ich Matchball habe, aber man spürt seine Nerven schon, je mehr Chancen man vergibt“, sagte Kerber, die im siebten Duell mit Kasatkina den vierten Sieg feierte. Sie ist wahrlich ein Phänomen, diese Ballwand aus Kiel. Niemand sonst schafft es, auf dem Court ein Gesicht zu ziehen wie jemand, der nach zwei Wochen Regenwetter aus dem so lange herbeigesehnten Sommerurlaub zurückkehrt, und dann trotzdem jeden Punkt mit einer Überzeugung zu spielen, als könne die Partie keinen anderen Ausgang nehmen als „Game, Set and Match Kerber“.

    Mit langen Bällen auf die Vorhandseite versuchte sie die Russin an der Grundlinie in Bewegung zu halten. Wenn Kasatkina ins Rollen kam, waren deren Power und Unbekümmertheit zu sehen. 33 Gewinnschläge unterstrichen ihre Durchschlagskraft, nur 16 gelangen Kerber. Wüsste man es nicht besser, dann würde man angesichts ihrer perfekt eingesprungenen Rückhand glauben, dass Kasatkina zu häufig mit Florian Mayer trainiert hätte. Allerdings machte sie ihrer Widersacherin mit sieben Doppelfehlern und 31 unerzwungenen Fehlern (Kerber 14) auch Geschenke, die man in einem Grand-Slam-Viertelfinale dankend annimmt. „Ich habe alles gezeigt, was ich kann. Es war ein unglaubliches Match, ich habe jede Sekunde genossen. Die Bessere hat gewonnen“, sagte Kasatkina.

    Eine wichtige Erkenntnis war zudem, dass sich Kerber auf ihre Nervenstärke verlassen kann. Die Olympiazweite von 2016 ließ sich auch von drei verlorenen Aufschlagspielen in Serie im zweiten Durchgang nicht verunsichern, schaffte jeweils das Rebreak und blieb im entscheidenden zwölften Spiel cool. „Die mentale Stärke ist wichtig. Ich bin glücklich, wieder in zwei Sätzen gewonnen zu haben“, sagte sie.

    Im ersten Aufeinandertreffen mit Ostapenko wartet auf Kerber, die bislang nur gegen US-Qualifikantin Claire Liu (18) einen Satz abgegeben hat, eine neue Herausforderung. Mit ihrem brachialen Hochrisikospiel steigert die Lettin das Geschwindigkeitslevel im Vergleich zu Kasatkina, ist allerdings nicht so fintenreich. „Es ist egal, gegen wen ich spiele, ich muss mein bestes Tennis zeigen, wenn ich das Finale erreichen will“, sagte Kerber. Dass sie nach dem beispiellosen Favoritensterben – erstmals in der Wimbledon-Historie fand ein Viertelfinale ohne die zehn Topgesetzten statt – nun als Höchstnotierte selbst die Favoritenrolle zu tragen habe, setze sie nicht unter Druck, weil sie es nicht so sieht. „Jede, die im Halbfinale steht, hat es verdient. Eine Favoritin gibt es nicht“, sagte sie.