Kasan. Der bullige Stürmer spielt nicht nur kaum zu verteidigenden Fußball, sondern kann auch viele Fremdsprachen

    Mitunter genügen kurze Momente, um einen Menschen sympathisch zu finden. So geht es Romelu Lukaku häufiger, wenn er irgendwo auftritt. Und dazu muss der Mittelstürmer der belgischen Nationalmannschaft nicht einmal mit dem Ball am Fuß übers Feld stürmen oder ein Tor schießen. Vergangenen Donnerstag überraschte der 1,90-Meter-Mann mit Vielsprachigkeit. Auf der Pressekonferenz beantwortete er zur Überraschung aller die Fragen im originalen Wortlaut.

    „Nichts ist einfach im Leben, wenn man was erreichen will“, richtete er auf Englisch aus. Nächste Frage, nächste Sprache. Auf Französisch: „Wenn wir das Spiel gewinnen, wird das nächste Spiel noch schwieriger.“ Und bitte auf Niederländisch: „Gegen Brasilien kannst du nicht nur attackieren.“ Am Ende noch auf Portugiesisch: „Aus meiner Sicht ist Neymar kein Schauspieler.“ Fast wäre fürs Sprachgenie in Stollenschuhen Applaus aufgebrandet. Die in jeder Hinsicht imposante Ausnahmeerscheinung im belgischen Sturm, als Sohn kongolesischer Eltern in ärmlichen Verhältnissen in der belgischen Hafenstadt Antwerpen aufgewachsen, hat einmal erzählt, dass ihm diese Gabe wohl in die Wiege gelegt wurde. Er lerne rasch vom Zuhören.

    Der vierfache WM-Torschütze verkörpert wie kein anderer die vielfältigen Talente des Titelanwärters Belgien, der am Dienstag (20 Uhr ARD) im Halbfinale auf Frankreich trifft. Sein 74. Länderspiel wird ein schwieriges, auch in St. Petersburg kommt es fast zu einer finalwürdigen Konstellation. Wird es der nächste Akt, in dem Lukaku der Welt imponiert? Wie eine große Welle, die Menschen mit bloßen Händen im Meer stehend nicht stoppen können, war er vergangenen Freitag über die Seleçao hereingebrochen.

    Nur einmal rannte der Weltstar mit dem Ball am Fuß direkt ins Toraus. Da hatte er zu viel gewollt. Ansonsten befolgte Romelu Lukaku genau den Plan, den ihm Trainer Roberto Martinez mitgegeben hatte. Nicht immer selbst den Abschluss suchen, sondern die entscheidenden Schneisen reißen. Die Vorarbeit zum 2:0 von Kevin De Bruyne war sein Meisterstück. Und die Belohnung für einen langen Anlauf.

    Rückblende: Schon als Kind schwor er sich, seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Zeitweise lebten die Lukakus ohne Strom, das Kabelfernsehen wurde abgeschaltet, und aus der Dusche lief nur kaltes Wasser. Weil seinen Eltern, Vater Roger und Mutter Adolpine, das Geld fehlte. „Ich kann mich ganz genau an den Moment erinnern, an dem ich wusste, wir sind pleite. Ich sehe Mama noch heute vor dem Kühlschrank stehen. Ich war sechs Jahre alt, und es war normal, dass es immer nur Milch und Brot zum Mittagessen gab.“ Auf einmal aber rührte die Mutter Wasser ins Milchglas. „Wir waren nicht nur arm, wir waren absolut pleite“, erzählte er in einem Interview kürzlich dem Magazin „The Players Tribüne“.

    Auf dem Bolzplatz spielte er nicht nur mit Wut im Bauch, sondern auch mit einem Ziel: „Ich war auf einer Mission. Jedes Spiel, das ich gespielt habe, war mich ein Endspiel. Ich bin der stärkste Typ, den du jemals treffen wirst. Weil ich mich erinnere, wie ich mit meinem Bruder und meiner Mutter im Dunkeln saß und unsere Gebete sprach.“ Als Zwölfjähriger benutzte er die Schuhe seines Vaters, als 16-Jähriger bekam er einen Profivertrag beim RSC Anderlecht. Wenig später wurde er zum größten Sporttalent Belgiens gewählt.

    Jetzt ist an ihm gut die Fortentwicklung des Nationalteams abzulesen, wo er schon im März 2010 debütierte. Damals war er noch nicht einmal 17 Jahre alt. Im November desselben Jahres schoss er bei einem Freundschaftsspiel gegen Russland seine beiden ersten von heute 40 Länderspieltoren. Bereits im August 2011 schnappte sich der FC Chelsea das Wunderkind. Ab 2013 entwickelte er sich beim FC Everton zu einem der besten Stürmer auf der Insel. Vergangenen Sommer verpflichte ihn Manchester United für 85 Millionen Euro Ablöse.

    Das Vorankommen im feuerroten Nationaltrikot erforderte mehr Geduld. Als bei der WM 2014 erstmals der fili­grane Eden Hazard und der wuchtige Lukaku mitspielten, galt die Generation bereits als Geheimfavorit. Aber im Viertelfinale gegen Argentinien rannte sich auch ihr Stoßstürmer fest. Auf der Gegenseite traf Gonzalo Higuain mit einem Geistesblitz. 2018 will die belgische Nummer neun derjenige sein, der den Unterschied ausmacht. Mit Kylian Mbappé und Antoine Griezmann bringt auch Frankreich potente Offensivkräfte ein, aber seine Fähigkeiten erscheinen fast erfolgsversprechender, weil vielseitiger. Sprachlich sowieso. Man möchte nur noch erleben, was passiert, wenn Lukaku bei der WM noch mal eine Frage auf Russisch gestellt wird. Vielleicht hat ihm die Freizeit schon ausgereicht, bei Betrachten der Spiele mit russischem Originalkommentar sich auch das noch anzueignen.