Moskau. England jubelt über die „Three Lions“ und feiert wie die Deutschen bei der WM 2006

    Lange nach dem 2:0-Erfolg gegen Schweden in der Samara-Arena stand Harry Kane in der kleinen englischen Fankurve, unterschrieb Autogramme, posierte für Fotos. Im Pressesaal bedankte sich Nationaltrainer Gareth Southgate (47) rührend bei einer ellenlangen Liste von Menschen, die das kleine Fußballwunder mitgeschaffen hatten. Der größte Erfolg von Southgate und seinem jungen Team ist es, die Herzen der Fans zurückerobert zu haben.

    „Football is coming home”, der alte Gassenhauer der EM 96, wird wieder lustvoll in den Pubs und Fußgängerzonen des Landes gesungen, doch es geht dabei nur vordergründig um den uralten Traum, den WM-Pokal auf einem Doppeldecker-Bus zu präsentieren. „It’s coming home” steht für die Freude des Augenblicks, in dem der Fußball einem englischen Nationalteam nach all den Enttäuschungen, Pleiten und Peinlichkeiten der Vergangenheit wieder Spaß macht und ein ganzes Land hinter den sympathischen „Three Lions” vereint.

    Das Gros der Fans auf der Insel feiert ganz ohne chauvinistisches Gehabe, ähnlich wie die Deutschen 2006 aus Glück über ein unerwartetes Geschenk. Niemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass die mit Ausnahme von Starstürmer Harry Kane (Tottenham) nicht übermäßig stark besetzte Truppe in Russland Tuchfühlung mit dem Goldpokal aufnehmen würde.

    Southgate veränderte Dinge auf und neben dem Rasen

    „Viele der Spieler haben diese Energie und Zuneigung von den Leuten zu Hause noch nie gespürt”, sagte Southgate, das Gesicht der Bezauberung, in Samara. „Die Chance, alle Menschen in England durch den Fußball zusammen zu bringen und die Stimmung zu verändern ist weitaus gewaltiger als das, was wir mit unseren Ergebnissen bewirken.”

    Ein bisschen Glück gehört selbstverständlich dazu. Schwierigere Gegner in der Gruppe und in den bisherigen K.o.-Runden, oder eine größere Treffsicherheit der Kolumbianer im Achtelfinale, und die Engländer wären so schnell wieder aus ihrem Lager nördlich von St. Petersburg abgereist, dass der Fußball gar keine Zeit gehabt hätte, mit ihnen nach Hause mitzukommen.

    Southgate, der im Herbst 2016 nur als Verlegenheitslösung ins Amt kam, hat mit großem Elan auf und neben dem Rasen Dinge verändert, die für eine neue Atmosphäre sorgten. Sein England versucht nicht im Stile einer Coverband den imaginären Tempofußball des klassisch-englischen 4-4-2 auf die internationale Bühne zu hieven, sondern bedient sich modernen Formations- und Rhythmuswechseln. „Pep Guardiola ist definitiv eine Inspiration für diese Elf”, hat Ex-Man-United-Spieler Paul Scholes erkannt. Auch Jürgen Klopp, Mauricio Pochettino und Antonio Conte waren für Southgates Taktikfindung wichtig.

    Ebenso wichtig ist jedoch die vom früheren Nationalspieler erzeugte Nähe zwischen Mannschaft und Publikum. Er und die FA haben erkannt, dass es nicht erfolgsvorsprechend war, das Team wie in den englischen Vereinen üblich von der Außenwelt komplett abzuschotten. Die Liebe zum Club ist bei den Briten so groß, dass sie sich gefallen lassen, wie Kunden behandelt zu werden, doch die Nationalmannschaft musste sich die Sympathien erst gewinnen. Southgate ließ im Mai den Kader in einem Youtube-Video von Kindern und Jugendlichen verkünden, wies seine Schützlinge an, sich den Medien zu öffnen. Als neulich der Korrespondent der Sunday Times mit seinem Sohn ein Videotelefonat in Nähe des Teamhotels führte, kam zufällig Dele Alle vorbei, griff zum Hörer und sprach mit dem Teenager lange über ein Computerspiel.