Kasan. Belgiens goldene Generation trifft am Dienstag im Halbfinale auf Frankreich – und ist noch nicht fertig

    Den Motor hatte der Mannschaftsbus noch nicht angeworfen, und es hämmerte auch niemand an den Scheiben mit der Aufschrift „Red Devils on a Mission“ (Rote Teufel auf einer Mission), doch Pierre Cornez mahnte nach der Viertelfinalgala gegen Brasilien (2:1) bei den glücksseligen Protagonisten trotzdem zum Aufbruch. Der Medienbeauftragte beim belgischen Nationalteam wusste ja, dass diese Nacht mit dem Rückflug aus Kasan ins Stammquartier im Moskauer Country Club schon viel zu kurz sein würde. Als Alex Witsel dann noch bei einer chinesischen Reportertraube stehen blieb – der Mittelfeldspieler verdient seit anderthalb Jahren gutes Geld bei Tianjin Quanjian – schritt Cornez nach drei Sätzen auf Englisch ein. Nichts wie weg.

    Die Vorbereitung auf das WM-Halbfinale gegen Frankreich (Dienstag 20 Uhr MESZ/ARD) ist seit dem Wochenende in vollem Gange und beinhaltete auch eine Radtour in dem weitläufigen Sportkomplex. Dann werden am heutigen Montag die Koffer gepackt für die Reise nach St. Petersburg: Für den Wuschelkopf Witsel wird es sogleich eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit: Als noch der spätere HSV-Vorstandsvorsitzende Dietmar Beiersdorfer die dank des Energieriesen Gazprom prall gefüllte Schatulle von Zenit St. Petersburg verwalten durfte, war einer seiner spektakulärsten Amtshandlungen die Verpflichtung dieses vielseitigen belgischen Mittelfeldspielers. 40 Millionen Euro Ablöse flossen im September 2012. Was heute auf dem Transfermarkt fast Kleingeldist, war damals eine große Summe.

    Witsel hielt es fast fünf Jahre in der Zarenstadt aus, und der 29-Jährige könnte seinen Kollegen weit mehr zeigen als den Schlossplatz mit der Alexandersäule, die Isaakskathedrale oder die Peter-Paul-Festung. Doch die goldene Generation eint ein ganz anderes Ziel: das Moskauer Luschniki-Stadion. Der Finalort. „Wir sind noch nicht fertig. So eine Chance erlebst du nur einmal, wenn überhaupt. Wir wollen alle in das Spiel, auf das die ganze Welt schaut“, richtete der in seiner offensiven Rolle aufblühende Dampfmacher Kevin De Bruyne aus.

    Man ist sich ziemlich einig, dass die überragenden belgischen Figuren wie Matchwinner De Bruyne, Eden Hazard und Romelu Lukaku gegen den Rekordweltmeister ein vorweggenommenes Endspiel ausgetragen haben. Jetzt braucht es aber gegen ausgebuffte Franzosen, die bislang ihr Können nur andeuten mussten, noch mal dieses Niveau. „Wir spielen gegen eine geschlossenes Team mit vielen außergewöhnlichen Spielern“, glaubt der einst beim OSC Lille ausgebildete Edeltechniker Hazard, der nicht der Einzige ist, der vom französischen Vereinsfußball geprägt ist. Dazu haben gerade die Wallonen im Team nicht nur sprachlich einen engen Bezug zum Nachbarland; sie kennen auch die Mentalität der Angreifer Antoine Griezmann oder Paul Pogba – und deren Verwundbarkeit. In der Defensivarbeit sind beide nicht immer über jeden Zweifel erhaben.

    Vielleicht aber sitzt der entscheidende Faktor auf der Trainerbank. Der in seiner Erscheinung ein wenig an Pep Guardiola erinnernde, aber noch mehr von Johan Cruyff inspirierte Robert Martinez hat mit dem zweiten belgischen WM-Halbfinaleinzug nach 1986 ein erstes Meisterstück vollbracht, indem der gebürtige Spanier mit seinem (bekannten) Überfallplan den Kollegen Tite austrickste. Sein bestens austariertes Ensemble verknüpft taktische Flexibilität mit einer titelverdächtigen Selbstüberzeugung. „Als ich die Spieler im Tunnel gesehen habe, wusste ich, dass sie an sich glauben“, erzählte der 44-Jährige, ohne sich selbst zu sehr auf die Schulter zu klopfen. „Der Plan kann noch so gut sein: Die Spieler müssen ihn umsetzen.“ Glück gehörte gegen Brasilien allerdings auch dazu.

    Hinten und vorne führte sein Ensemble auf mehreren Positionen Weltklasse vor und war in der Lage, seine Spielweise jederzeit anzupassen. Hilfreich, dass die Leistungsträger diesmal in den entscheidenden Momenten ihre Klasse nicht versteckten: Das fing beim famosen Rückhalt Thibaut Courtois an, dem 1,99 Meter großen Torhüter, der mit krakenartigen Bewegungen die schwierigsten Bälle hielt, ging über den fulminanten Ballhalter Hazard, der sich wie eine Schlange zu winden weiß und reichte bis zum fabelhaften Lückenreißer Lukaku, der bei der Vorarbeit zum 2:0 wie eine Dampfwalze durch gegnerische Reihen brach.

    Am Dienstag kommt es nun zu einem besonderen Rendezvous. Co-Trainer bei den Belgiern ist Frankreichs Rekordtorschütze Thierry Henry (40). Frankreichs aktueller Manndecker Raphaël Varane erzählte jüngst, wie er einst als kleiner Bub in Belgien bei Turnieren kickte. Er wurde vor 25 Jahren in Lille geboren, zur Grenze ist es nicht weit. Man kennt sich, man spielte und spielt in Top-Vereinen Europas mit- und gegeneinander. Und schon 73- mal trafen die beiden Länderauswahlen aufeinander. Die Bilanz aus Sicht Frankreichs: 24 Siege, 19 Remis, 30 Niederlagen, 127:160 Tore. Frankreich war zudem 1904 der erste Länderspielgegner Belgiens (3:3) und gewann 1986 das bisher letzte Aufeinandertreffen bei einer WM. Die Franzosen siegten im Spiel um Platz drei mit 4:2 nach Verlängerung.

    „Glücklich, euch wiederzusehen“, schrieb daher Frankreichs Sportblatt „L’Équipe“ und stellte zuallererst einmal fest: „Wir mögen uns“. Es gebe eine Vorliebe für Zärtlichkeiten unter ihnen, befand das Blatt – sogar mit den Flamen, die ja so eine lustige Sprache sprechen würden. Aber der Respekt in Frankreich vor dem Nachbarn ist groß: „Les Bleus sind vorsichtig gegenüber den Belgiern“, meinte „La Provence“ aus Südfrankreich und warnte: „Achtung vor Romelu Lukaku“.