Noirmoutier. Am Sonnabend startet die 105. Tour de France – so stehen die Chancen der Deutschen

    Der wichtigste Mann sprach mit so leiser Stimme, dass ihn die Reporter kaum verstehen konnten. Vielleicht war es der Umstand, dass die Fragen zunächst auf Englisch gestellt wurden, vielleicht lag es aber auch daran, dass die Worte von Marcel Kittel Gewicht bekommen, sobald er sie ausspricht. Der 30-Jährige ist nach seiner Sensations-Tour im Vorjahr mit fünf Etappensiegen die deutsche Hoffnung. Er selbst bleibt aber verhalten: „Ich bin nicht der Topfavorit bei den Sprints“, sagt Kittel vor dem Start der 105. Tour de France am Sonnabend. „Aber mein Ziel ist, die erste Etappe zu gewinnen und das Gelbe Trikot zu holen.“

    Dabei liegt hinter Kittel kein leichtes Jahr. Nach seinem Wechsel von Quick-Step zu Katusha-Alpecin lief nicht gleich alles rund. An der Kommunikation dürfte es nicht gelegen haben, das Schweizer Team stellt dem Kapitän mit Nils Politt, Rick Zabel und Tony Martin drei deutsche Helfer zur Seite. Doch der finale Auftritt bei der Deutschen Meisterschaft im Einhausen (Hessen) fiel ernüchternd aus (Platz zehn). „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass es nicht in meinem Kopf ist“, sagte der Thüringer. „Wir sind ein bisschen auf der Suche gewesen. Wir sind uns alle bewusst, dass wir uns hier richtig reinhängen müssen.“ Damit Kittel eine Chance hat gegen den dreifachen Weltmeister Peter Sagan, Michael Matthews aus Australien, den Briten Mark Cavendish oder den Kolumbianer Fernando Gaviria.

    Tony Martin will Kittel zu neuen Etappensiegen verhelfen

    Der eine Etappensieg, Kittels Minimalziel, könnte dabei schon auf dem Premierenteilstück von Noirmoutier-en-l’Île an der Atlantikküste nach Fontenay-le-Comte fallen. Deutschlands Top-Sprinter hat sich die 201 Kilometer lange Strecke mit einem Anstieg kurz vor dem Ziel bereits angesehen. Hier will er wieder schaffen, was ihm 2013 auf Korsika und 2014 in Yorkshire gelang: gleich zum Start das Gelbe Trikot überstreifen. „Ich weiß, wie es sich anfühlt“, sagt Kittel. „Das ist für jeden Sprinter ein großer Moment.“

    Ein Moment, den theoretisch auch Teamkollege Tony Martin erleben könnte. Fünf Etappen konnte der 33-jährige Cottbuser bereits gewinnen, doch diesmal greift er nicht nach dem großen Triumph. „Ich hoffe, dass ich Marcel zu einem Etappensieg verhelfen kann.“ Martin fährt vorneweg, den Sieg soll ein anderer holen. Doch eine Etappe hat auch Martin im Blick: Das Abschluss-Zeitfahren auf der 20. Etappe. „Darauf freue ich mich.“

    Die deutschen Radsport-Fans müssen sich in diesem Jahr mit fünf Fahrern weniger begnügen. Elf Deutsche begeben sich auf die 3351 Kilometer lange Rundfahrt. Das macht auch das Feld der Hoffnungsträger kleiner. Neben Kittel sind da noch Routinier André Greipel und Joker John Degenkolb. Der gebürtige Rostocker Greipel wird bald 36, sein Vertrag bei Lotto Soudal läuft aus. Für den elfmaligen Etappensieger ist die Tour daher eine gute Chance, sich zu zeigen – und vielleicht an seine alten Erfolge anzuschließen. Den Schlüsselbeinbruch, den er im März erlitten hatte, hat er auskuriert. „Ich hatte eine schwierige Saison nach dem Unfall“, sagt Greipel. Danach konnte er immerhin je zwei Etappensiege bei „4 Jours de Dunkerque“ in Frankreich und bei der Belgien-Tour gewinnen.

    Degenkolb (29) hat zwar die Klassiker Mailand–Sanremo und Paris–Roubaix 2015 gewonnen, aber noch keine Etappe bei der Tour. Zuletzt musste er wegen einer Schleimbeutelentzündung pausieren, bei seinem Heimrennen Eschborn–Frankfurt blieb ihm nur der Job des Kommentators. Doch bei der Deutschen Meisterschaft vor rund einer Woche wurde der Profi vom Team Trek-Segafredo Zweiter: „Das wird mir Auftrieb geben.“ Für einen deutschen Sieg bei der Tour.