Kasan. Brasilien gegen Belgien ist auch ein echtes Trainerduell. Mit Tite trifft ein italienischer Brasilianer auf Belgiens England-Spanier Martínez

    Alter vor Schönheit. Getreu diesem Motto wurde am Donnerstag Brasiliens Tite der Vortritt gelassen. Um 15.45 Uhr hatte der 57 Jahre alte Grandseigneur der Seleção seinen Auftritt in der Kasan-Arena, beantwortete 13 Fragen und blieb handgestoppte 33.35 Minuten. „An sein erstes Mal erinnert man sich immer gerne“, sagte Tite lachend, als er auf sein erstes WM-Viertelfinale angesprochen wurde.

    Knapp drei Stunden später war dann Belgiens Beau Roberto Martínez an der Reihe. Der Spanier, der sich aufgrund des plötzlichen Starkregens um eine halbe Stunde verspätet hatte, musste vor der Partie zwischen Brasilien und Belgien (20 Uhr/ZDF) in 18.26 Minuten zwölf Fragen beantworten. „Brasilien weiß, wie man eine WM gewinnt – und trotzdem wollen wir gewinnen“, sagte Martínez, der auch ein Kandidat für das spanische Nationalteam sein soll.

    Doch Spanien mag die Zukunft sein. Die Gegenwart heißt Brasilien gegen Belgien. Und das ist auch das Duell zweier Trainer, die so unterschiedlich sind, dass sie sich schon wieder ähneln: Hier Adenor Leonardo Bacchi, kurz Tite. In Caxias do Sul im Süden Brasiliens als Sohn italienischer Einwanderer geboren und bis auf zwei Kurzstationen in den Emiraten immer in Brasilien gelebt und gearbeitet. Mit der Seleção, die er vor zwei Jahren übernommen hat, könnte er sein Lebenswerk krönen.

    Dort der 13 Jahre jüngere Roberto Martínez Montoliú. Bereits als 22-Jähriger kehrte der Fußballästhet seiner spanischen Heimat den Rücken, um den Kick-and-Rush-Briten der 90er-Jahre lange vor Pep Guar­diola in die Kunst des Tiki-Taka einzuführen. Nach 21 Jahren in England übernahm er vor zwei Jahren den ewigen Geheimfavoriten Belgien, um nach zwei Viertelfinal-Teilnahmen in Folge (2014 und 2016) endlich den großen Wurf zu schaffen. Doch um diesen ganz großen Wurf zu realisieren, muss Martínez zunächst einmal Tite bezwingen, den Professor.

    Tite, der in Europa ziemlich unbekannt ist, hat sich in der Heimat schon vor Jahren einen guten Namen gemacht. Für seinen Spitznamen, der „Titschie“ ausgesprochen wird, sorgte einst Felipão Scolari, der ihn ganz einfach verwechselt hatte. Trotzdem wurde Scolari zunächst Tites Mentor und später sein Trainerkonkurrent. Als Scolari nach dem 1:7-Fiasko in Brasilien gescheitert war, sollte Tite übernehmen. Doch der brasilianische Verband entschied sich für Ex-Nationaltrainer Carlos Dunga, ehe man nach anhaltender Erfolglosigkeit doch zwei Jahre später auf Tite zurückgriff. Seine Philosophie: keine Philosophie. „Die Essenz eines großen Trainers ist es, das Beste aus seinem Team herauszuholen“, sagt Tite. „Der Trainer muss seinen Stil der Mannschaft anpassen, nicht umgekehrt.“

    Nun, Tites Stil kommt an. So verriet Paulinho vor einigen Tagen in einem Beitrag für die Internetseite „Players Tribune“, dass er seine Karriere wegen persönlicher Probleme schon beenden wollte. Doch dann kam Tite. „Ich habe den Mann getroffen, der mein Leben verändert hat und ein zweiter Vater für mich wurde.“ Und Paulinho ist nicht der Einzige. Gleich sechs der elf Stammspieler sind ohne eigenen Vater aufgewachsen – und haben in Tite mehr als nur einen Trainer gefunden.

    Das Vertrauensverhältnis zahlt sich aus. So hat Tite ausgerechnet der Ansammlung von Zauberfußballern der Seleção einen variablen, aber auch pragmatischen Ergebnisfußball eingetrichtert, der sogar in der traditionell kritischen Heimat wohlwollend begleitet wird. Brasilien kassierte erst ein Gegentor bei dieser WM, spielt aber keinen uruguayischen Bollwerkfußball.

    In der Offensive haben die Magier Neymar, Coutinho, Willian und Gabriel Jesus die Erlaubnis, den Zauberstab zu schwingen. „Wie haben vorne so viel individuelle Qualität. Natürlich sollen die Jungs im letzten Drittel auch dribbeln.“

    Zaubern dürfen selbstverständlich auch Roberto Martínez’ Belgier, die bereits zwölf Turniertreffer erzielen konnten. Damit trifft in Kasan die bislang erfolgreichste WM-Offensive auf die bislang erfolgreichste WM-Defensive.

    Aber genauso wenig wie Tite ein reiner Abwehrstratege ist, ist Martínez ein Anhänger des kopflosen Offensivspektakels. Der frühere Wahl­engländer, der in Deutschland vor dieser WM weitgehend unbekannt war, ist ein großer Freund des spanischen Ballbesitzfußballs. Ausgerechnet bei Swansea City, seiner ersten Station als Cheftrainer, überzeugte Martínez mit seiner Philosophie des Kurzpassspiels. Spätestens nach dem Aufstieg in die Zweite Liga machte die Wortschöpfung Swansealona – also eine Mischung aus Swansea und Barcelona – die Runde.

    Doch anders als Deutschland und Spanien, die sich bei dieser WM totgepasst haben, lässt Martínez seinen schnellen Offensivspieler genauso Freiheiten nach vorne, wie Tite ­Neymar und Co. gewähren lässt. Bestes Beispiel: das Neun-Sekunden-Blitztor zum 3:2 gegen Japan in letzter Minute.

    Martínez ist eine Art Fußball-Purist. Als er nach dem Vorrundensieg gegen England, der Belgien als Gruppensieger den mutmaßlich schwierigeren Weg ins Finale bescherte, gefragt wurde, ob das so clever gewesen sei, antwortete der Coach unmissverständlich: „So kann man nicht denken. Man braucht eine Gewinnermentalität.“

    Diese haben Belgien und Brasilien im Laufe des Turniers unter Beweis gestellt. „Es ist ein tolles Duell zweier Mannschaften mit sehr unterschiedlichen Charakteristiken“, sagte Tite. Er hätte auch sagen können: ein Duell zweier toller Trainer mit sehr unterschiedlichen Charakteristiken.

    Brasilien: 1 Alisson – 22 Fagner, 2 Thiago Silva, 3 Miranda, 12 Marcelo – 17 Fernandinho – 15 Paulinho, 11 Coutinho – 19 Willian, 9 Gabriel Jesus, 10 Neymar. Belgien: 1 Courtois – 5 Vertonghen, 4 Kompany, 2 Alderweireld –
    15 Meunier, 7 De Bruyne, 6 Witsel, 22 Chadli – 14 Mertens, 9 Lukaku, 10 E. Hazard.Schiedsrichter: Mazic (Serbien).