Sotschi. Dank Doppeltorschütze Edinson Cavani träumen die Südamerikaner vom dritten WM-Titel seit 1930 und 1950

    Als Edinson Cavani aus der Kabine kam, stürzten beinahe die Absperrungen ein. Der Mann des Abends beobachte den Andrang amüsiert. Glänzend sah er aus im dunkelblauen Teamanzug, die langen Haare, die schlanke Figur, eine Erscheinung mit Klasse. Wie er sich gab und was er dann so sagte, vermittelte eine Idee davon, warum sich die Fans bei seinem Verein Paris Saint-Germain diese Saison im Streit mit dem neuen Platzhirsch Neymar immer auf seine Seite schlugen. Edinson Cavani (31) ist auch ein ziemlich klassischer Fußballer. In der Tat: ein Anti-Neymar.

    Man sieht das schon auf dem Platz, wo er im Achtelfinale gegen Portugal beide Treffer zum 2:1-Sieg erzielte, den ersten nach famosem Zusammenspiel mit Sturmpartner Luis Suárez, den zweiten mit einer nicht minder sehenswerten Direktabnahme. Wo er aber darüber hinaus bis zum Umfallen ackerte, ganz buchstäblich: Eine Viertelstunde vor Schluss musste er den Rasen des Olympiastadions von Sotschi mit Wadenproblemen verlassen. Als der junge Mittelfeldspieler Lucas Torreira nach Cavani gefragt wurde, sprach er nicht von den beiden Toren, er sagte: „Er hat sich unglaublich aufgeopfert – wie auch Luis, sie helfen uns enorm, indem sie den Spielmachern des Gegners immer auf den Füßen stehen.“

    Cavani versinnbildlicht so gesehen das Ganze: dieses kleine Uruguay mit seinen gut drei Millionen Einwohnern, das sich keinen Bling-Bling erlauben kann, weil es jedes Mikroquantum produktiv nutzen muss, um mit größeren Nationen mitzuhalten. „Das Schönste ist es, die Freude in den Augen der Teamkollegen zu sehen“, hauchte der Stürmer nun. „Zu wissen, dass sich jeder Schweißtropfen gelohnt hat. Es macht sehr stolz, eine Mannschaft zu sehen, wie sie arbeitet und alles gibt; unsere Fans, wie sie uns anfeuern; unser Volk, das uns die ganze Energie von Uruguay überträgt.“

    Das mag arg pathosgeladen klingen, aber es ist halt auch so: Irgend­etwas beflügelt die Nationalspieler Uruguays, wann immer sie sich das Trikot der „Celeste“ überziehen, und es ist bestimmt nicht nur der Mate-Tee, den sie auf der anderen Seite des Río de la Plata noch passionierter konsumieren als in Argentinien. Mit den entsprechenden Bechern in der Hand gingen viele Spieler später zum Mannschaftsbus, es sah aus wie in einer Tourismuswerbung. Zumal die Szenerie musikalisch untermalt war, weil „die Zwiebel“ ihren Lautsprecher mit dabeihatte.

    „Cebolla“ Rodríguez ist einer der Veteranen aus der Generation Cavani/Suárez und, wie man jetzt weiß, der Kabinen-DJ. Die Band La Cumana, natürlich „aus unserem Land“, lief aus seiner tragbaren Box, so laut, dass man kaum sein Wort verstand, als er über das spezielle Familiengefühl im kleinen Uruguay sinnierte. „Wir sind mehr als eine Clubmannschaft. Wir kennen uns doch alle schon so lange.“

    Cavani schrieb ergreifenden Brief an sein neunjähriges Ich

    Eine Gruppe, die aus dem Zusammenhalt eine Stärke bezieht, die es sie mit jedem aufnehmen lässt: So schreiben sich die Außenseitermärchen des Mannschaftssports. „Wir müssen die Arbeit hervorheben, hier lässt sich niemand hängen, sagte Suárez. Immer störte noch einer den Gegner, immer warf sich einer gerade noch in den Schuss. Als zweifacher Weltmeister und Rekordchampion Südamerikas darf man sich nie ausruhen, wie Cavani erklärt: „Das ist unser Segen und unser Fluch. Wenn wir uns das himmelblaue Trikot anziehen, spüren wir den Stolz unserer Geschichte.“

    So schrieb er es vor ein paar Tagen in einem ergreifenden Brief an sein neunjähriges Ich, den er im Spielerportal „Players Tribune“ veröffentlichte. Man erfährt darin, dass er heute das Haar so lang trägt, weil er früher keines hatte. Wie er lernte, Alchimist zu sein, um im Winter das kalte Wasser aus dem Hahn mit einer Thermoskanne heißen Wassers zu einem Bad zu vermischen. Vom Kicken barfuß im Dreck, wo der Junge, der das letzte Tor schoss, ein Eis bekam. „Wenn ich die Augen schließe, kann ich immer noch den Schlamm unter den Füßen spüren. Das Klopfen meines Herzens, wie ich hinter dem Ball herlaufe, träumend von dem Eis.“ Heute geht es um eine WM, und Cavani hat allen Luxus, aber er vermisst die Freiheit des Neunjährigen. Nur auf dem Platz spüre er immer noch dasselbe: „Du wirst dieses Gefühl immer mit dir tragen, weil du Südamerikaner bist. Aus Uruguay. Du lebst den Fußball auf andere Art.“