London. Der Schweizer Rekordsieger Roger Federer will in Wimbledon seinen neunten Titel holen. Es wäre der 99. Turniersieg seiner Karriere

    Das Zeltdorf im Wimbledon Park, in dem jede Nacht Hunderte Tennisfans campieren, um am Morgen aus der bestmöglichen Position den Kampf um Eintrittskarten aufzunehmen, steht seit diesem Wochenende. In England, wo Schlangestehen Passion ist, gilt „The Queue“ als die berühmteste Schlange des Landes. Viele, die sich hier einreihen, um eines der täglich 500 in den freien Verkauf gehenden Tickets für den Center-Court beim weltweit bekanntesten Tennisturnier zu ergattern, hoffen, ihn zu sehen: Roger Federer, den Maestro aus der Schweiz, Rekordsieger in Wimbledon mit acht Titeln ebenso wie Rekordhalter bei den vier Grand-Slam-Events mit 20 Triumphen.

    Am Sonntagnachmittag sitzt Federer in grauem Sakko zu blauer Stoffhose im großen Presseraum und changiert charmant wie eh und je zwischen Englisch, Französisch und Schweizerdeutsch, um mehr als eine halbe Stunde lang die Fragen der Weltpresse zu beantworten. An diesem Montag (14 Uhr MESZ/Sky Sport News HD frei empfangbar) eröffnet der Titelverteidiger den Spielbetrieb auf dem Center-Court. Federers Gegner ist der Serbe Dusan Lajovic, Nummer 57 der Welt. Im bislang einzigen Aufeinandertreffen besiegte der Schweizer den 28-Jährigen 2017 ebenfalls in Wimbledon in Runde zwei 7:6 (7:0), 6:3, 6:2. „Es wird für mich niemals Gewohnheit sein, dieses Turnier eröffnen zu dürfen. Die Atmosphäre auf dem Center-Court ist magisch. Lajovic wird es mir schwer machen wollen, aber ich werde es genießen“, sagt er.

    Die Medienabteilung des All England Lawn Tennis Clubs hat zum Start des Turniers eine imposante Zahlensammlung über die bisherigen 19 Jahre zusammengetragen, in denen der 36-Jährige an der Church Road aufschlug. Tatsächlich hat Federer, seit er 1999 als 17-Jähriger in Runde eins dem Tschechen Jiri Novak in fünf Sätzen unterlag, kein einziges Wimbledonturnier verpasst. 2003 holte er gegen den Australier Mark Philippoussis seinen ersten Titel, seitdem stand er in elf Endspielen und erreichte mit Ausnahme des Zweitrunden-K.-o. 2013 gegen den Ukrainer Sergej Stachowski stets mindestens das Viertelfinale. 20.854 Punkte spielte er in seinen 19 Auftritten aus, 55 Prozent davon, 11.510, gewann er. Das klingt wenig, unterstreicht jedoch die Qualität, in den entscheidenden Momenten zuschlagen zu können.

    Die Zahl, die Federer jetzt am meisten interessiert, ist die Neun. In zwei Wochen könnte er sich zum neunten Mal in Wimbledons Siegerliste verewigen. Es wäre sein 99. Karrieretitel. Eine unglaubliche Bilanz, die man denjenigen vorhalten müsste, die die überschaubaren Leistungen der deutschen Fußball-Nationalelf in Russland damit abtun wollten, die Mannschaft sei nach dem WM-Titel von 2014 satt gewesen. „Ich werde nie aufhören, vom nächsten Titel zu träumen. Wimbledon hat für mich weiterhin höchste Priorität“, sagt Federer.

    „Es ist angesichts seines Alters verrückt, dass man Roger zum Topfavoriten erklärt“, sagt Tommy Haas. Der 40-Jährige, der seine Karriere im März beendete, ist als Berater des Franzosen Lucas Pouille (24/Nr. 16 der Welt) in Wimbledon. „Roger strahlt eine unglaubliche Ruhe aus, die ich sehr bewundere. Ich frage mich oft, ob er gar keine Emotionen kennt“, sagt der Wahl-Amerikaner. Neben der aus Erfahrung resultierenden Ruhe schätzt Haas zwei Dinge am komplettesten Tennisspieler aller Zeiten. „Seine Konstanz beim Aufschlag ist beeindruckend, er wirft den Ball immer gleich hoch. Er schlägt nicht allzu hart auf, aber sehr präzise, sein Service ist für den Gegner kaum lesbar. Außerdem ist der als Slice geschlagene Rückhandreturn eine echte Waffe.“

    Um seine Waffen zu pflegen, hat Federer auch in diesem Jahr wieder auf die Sandplatzsaison verzichtet. Nach dem Masters in Miami Mitte März ging er in eine Pause, die er nutzte, um Zeit mit der Familie zu verbringen. Aber auch, um seinen Körper in Wimbledon-Form zu bringen. „Diese Phase hat mir sehr gutgetan. Jetzt fühle ich mich wieder frisch“, sagt er. Mitte Juni, zum Start der Rasensaison, kehrte der Rechtshänder zurück auf die Tour, gewann das Turnier in Stuttgart, stand in Halle (Westfalen) im Finale. Dass er dort nicht ganz die gewohnte Souveränität ausstrahlte, dem Kroaten Borna Coric (21) unterlag und damit als Weltranglistenzweiter hinter seinem ewigen Rivalen Rafael Nadal (32/Spanien) nach London kam? Geschenkt. „Für mich spielt das keine Rolle“, sagt er.

    Das epische Wimbledon-Finale von 2008 zwischen Federer und Nadal war dem US-Digitalsender Tennis Channel eine zweistündige Dokumentation wert, die am Sonntagabend Premiere feierte. Unter dem Titel „Strokes of Genius“ nähert sich Autor Jon Wertheim dem Fünfsatzmatch, das Nadal gewann, aus diversen Perspektiven. „Es war ein großes Match, das ich aber teils aus meinem Gedächtnis gestrichen habe, weil es eine meiner härtesten Niederlagen war“, sagt Federer. Dass zehn Jahre danach dieselben Protagonisten, die sich seit Januar 2017 alle sechs ausgespielten Grand-Slam-Titel teilten, erneut als heißeste Sieganwärter gelten, spricht für die Gier auf Erfolg, die sie antreibt. Einer ihrer potenziellen Hauptkonkurrenten musste dagegen passen. Wegen anhaltenden Hüftproblemen wird der Schotte Andy Murry (31), der 2013 und 2016 in Wimbledon gewann, nicht an der Church Road aufschlagen können.