St. Petersburg. Argentinien feiert Einzug ins Achtelfinale wie den Titelgewinn. Nur Diego Maradona bereitet den Fans Sorgen

    Russland ist ein Land mit Vorschriften. Wenn ein Stadion schließt, dann schließt es, zumal, wenn auch noch der gleichfalls regulierungsfreudige Fußball-Weltverband Fifa beteiligt ist. Nur gegen die argentinischen Fans hat nicht mal Russland eine Chance. Auf Englisch und Spanisch waren sie am Dienstagabend schon mehrfach zum Verlassen der Krestovski-Arena aufgefordert worden, das Spiel gegen Nigeria war seit mehr als einer Stunde vorüber. Aber viele standen immer noch da und sangen.

    Der unter Extrembedingungen erstrittene 2:1-Erfolg gegen die tapfer kämpfenden Afrikaner qualifizierte sich auf Anhieb als historische Nacht des argentinischen Fußballs. So unerklärlich, wie die Generation um Superstar Lionel Messi bei WM und Südamerikameisterschaft drei Finals in Folge verlieren konnte – zweimal im Elfmeterschießen, 2014 in Brasilien nach Verlängerung gegen Deutschland –, so wundersam gelang ihr nun durch ein Tor von Verteidiger Marcos Rojo in der 86. Minute die Befreiung aus einem Gestrüpp von Zweifeln, Vorwürfen und Enttäuschungen, das unweigerlich auf die Katastrophe zuzusteuern schien, als ein kleinlicher Elfmeter zu Nigerias 1:1-Ausgleich gepfiffen wurde. Stattdessen geht es nun am Sonnabend im Achtelfinale gegen Frankreich. Argentinien, das wurde wieder einmal deutlich, hat mehr Leben als eine Katze.

    „Wahnsinn, was wir gelitten haben“, sagte Lionel Messi später. „Ich wusste, dass uns Gott nicht ausscheiden lassen würde.“ Später beseelte er noch einen TV-Journalisten, als er ihm ein rotes Bändchen zeigte, das ihm dieser nach dem verschossenen Elfmeter im Island-Spiel (1:1) geschenkt hatte, als Glücksbringer „gegen die Neider“. Messi trug es am rechten Fuß, dem schwächeren, mit dem er das Tor zum 1:0 gegen Nigeria geschossen hatte. Spätnachts beendete er sein emotionales WM-Coming-Out mit einer Botschaft an seine Community: „Danke an Gott für diese Freude und Euch für eure wunderbare Verrücktheit in jedem Spiel. Es gibt nichts Schöneres, als Argentinier zu sein, im Guten wie im Schlechten.“

    Zumindest führt keine Nation bei dieser WM ein so komplettes Drama auf. Es gibt Blut wie bei Javier Mascherano, der das Stadion mit dickem Pflaster an der linken Augenbraue verließ. Es gibt In­trigen über die Macht der Spieler um Messi, den Trainer Jorge Sampaoli kurz vor Schluss fragte: „Soll ich Agüero bringen?“ Es gibt jede Menge Pathos. Und dann gibt es noch Diego Maradona.

    Die aktuelle Mannschaft interessiert der große Anführer von Argentiniens letztem WM-Titel 1986 und Trainer vieler Spieler bei der WM 2010 nicht mehr allzu sehr. Sein Angebot, in den Krisentagen vor dem Nigeria-Spiel für eine Motivationsansprache im Teamquartier vorbeizuschauen, wurde jedenfalls nicht angenommen. Aber die Show in Sankt Petersburg, die sollte trotzdem nicht ohne den 57-Jährigen stattfinden.

    Als er erstmals auf der Stadionleinwand eingeblendet wurde, gab es von den argentinischen Fans, die zuvor den Namen von Messi bejubelt und den von Sampaoli ausgebuht hatten, freundlichen Applaus. Maradona winkte einmal und fing dann an, mit einer nigerianischen Besucherin zu tanzen, dicker Hintern an dickem Hintern. Das war ein bisschen lustig und vielleicht auch ein bisschen peinlich. Für Voyeure ist Maradona das Spektakel dieses Turniers. Für die Argentinier wird er immer ein unvergleichlicher Held bleiben. Schon deshalb können sie sich über ihn nicht so einfach amüsieren. Die argentinischen Fans nahmen die Bilder vom Tanz halt so zur Kenntnis. Die anderen lachten und feixten.

    Maradona blieb im Fokus der Kameras. Nach Messis Tor blickte er in den Himmel und schien mit den Fußballgöttern zu sprechen. Einmal zog er sein blaues T-Shirt hoch, dann dämmerte er kurz weg, zum Ende zeigte er vulgäre Gesten, und zwischendrin umarmte er sich mit seinem Ex-Agenten Guillermo Coppola, mit dem er sich 2003 zerstritten hatte; seither war man sich nur bei der Beerdigung von Maradonas Vater begegnet.

    Maradonas Einlieferung in ein Krankenhaus wird dementiert

    Wann es Diego selbst erwischen wird, diese Frage stellte sich am Dienstag auch mal wieder, nachdem ihn mehrere Personen beim Verlassen der Tribüne stützten mussten. Zunächst hieß es danach, er sei wegen erheblicher Kreislaufprobleme in ein Petersburger Krankenhaus eingeliefert worden. In seinem täglichen Fernsehtalk „De la mano del diez“, den wie schon vor vier Jahren das venezolanische Fernsehen produziert, tauchte er nicht auf. Doch aus seiner Entourage wurde die vermeintliche Einlieferung schnell dementiert, eine befreundete Journalistin berichtete in der Nacht, dass er sich planmäßig auf dem Rückflug nach Moskau befinde. Dort werde er am nächsten Tag auch wieder im TV-Studio sein, informierte Talkpartner Victor Hugo Morales, einst Kommentator seiner legendären Tore von 1986.

    Maradona beruhigte später seine Freundin mit dem Argument, in seiner Stadionloge habe es nur Weißwein gegeben. Und klar, den habe man halt komplett geleert. In der Halbzeit hätte ihm der Nacken geschmerzt, und ein Arzt sagte nach einer Untersuchung, er solle lieber gehen. „Aber ich wollte bleiben, wo doch für uns alles auf dem Spiel stand“, schrieb er seinen Fans. „Wie hätte ich gehen können? Küsschen an alle, entschuldigt den Schrecken, und danke fürs Aushalten: Diego bleibt noch!“ Auch dieses Finale ist bekannt: Maradona hat mindestens so viele Leben wie Argentinien.