Sotschi/Moskau. Der Torschütze zum 2:1-Sieg der deutschen Nationalelf gegen Schweden wird zum Sinnbild eines schlingernden, aber unbeugsamen Teams

    Von der Idee, die ihn zur Heldenfigur machte, hielt Toni Kroos erst einmal recht wenig. „Ich habe gesagt: Hm, bin ich nicht so überzeugt von“, gab der Nationalspieler den Inhalt des Gesprächs mit Marco Reus wieder. Beide standen da im Fisht-Stadion von Sotschi, der Ball lag ihnen zu Füßen, und sie beratschlagten, was anzustellen sei mit diesem letzten Freistoß auf der linken Seite, mit dieser letzten, wirklich allerletzten Chance auf ein siegbringendes Tor gegen Schweden im zweiten Vorrundenspiel der WM.

    Der Titelverteidiger stand vor der erstmaligen Peinlichkeit eines Abschieds in der Vorrunde einer Weltmeisterschaft. Eine erfolgreiche Ära wäre zu Ende gegangen, Eintrag in die Geschichtsbücher inklusive. Aber den gab’s auch so.

    Flanken? Oder schießen? Flanken, brüllte der verletzt zuschauende Mats Hummels von der Seitenlinie. Schießen, plädierte Reus aus der Nähe. Schlechte Position dafür, dachte Kroos. „Es war ja zuvor so, dass die hohen Flanken relativ einfach von den Schweden herausgeköpft wurden. Wir haben uns dann entschieden, den Ball noch mal ein bisschen reinzuspielen, um einen besseren Winkel für einen Schuss zu bekommen“, erklärte Kroos. Er tippte den Ball an, ließ ihn von Reus stoppen – und schuf mit seinem rechten Fuß ein Kunstwerk. Erlösung nach 94 Minuten und 42 Sekunden. Das späteste Tor, das je eine deutsche Mannschaft in der regulären Spielzeit bei einer WM erzielte. „Mir sind bei dem 2:1 fast die Tränen gekommen, weil es so geil war“, sagte Stürmer Timo Werner.

    Ein Fehlpass von Toni Kroos führte zum 0:1-Rückstand

    Wäre all das von einem Dramaturgen ersonnen worden, dann hätte man ihm vermutlich Einhalt gebieten müssen. Zu kitschig, zu viel von allem. Rettungsszenario mit der letzten Patrone. Geht’s auch ein bisschen kleiner? Aber das hier, das war nun mal die Realität, und nichts und niemandem war noch Einhalt zu gebieten, als sich ein Stück Fußball ereignete, an das man sich auch in vielen Jahrzehnten noch erinnern wird. Weißt du noch damals, als die Deutschen schon erledigt schienen? Kroos hatte sie bis an diesen tiefen, tiefen Abgrund geführt – und eilte selbst zur Rettung.

    „Ich habe mich für ihn wahnsinnig gefreut, weil er am Gegentor mit beteiligt war“, sagte Bundestrainer Joachim Löw über Kroos. Dessen Fehlpass führte zum Rückstand durch Ola Toivonen (32.). „Das 0:1 geht auf meine Kappe. Aber man muss dann auch die Eier haben, die zweite Halbzeit so zu spielen“, sagte der 28-Jährige, der sonst mit großer Sicherheit seine Bälle an den eigenen Mann bringt. „Wenn du im Spiel 400 Pässe spielst, kommen auch mal zwei nicht an. Es gibt dann aber zwei Möglichkeiten: Entweder es macht dein Spiel kaputt. Oder du treibst deine Mannschaft an. Das habe ich in der zweiten Halbzeit versucht.“

    Jene Haltung machte aus Kroos das perfekte Sinnbild der gesamten Mannschaft. Deutschland ganz Kroos. Die Elf erlaubte sich wieder erhebliche Schwächen, sie agierte bisweilen unglücklich und wirkte nicht immer auf dem Zenit ihrer Schaffenskraft. Aber sie bewies jene teutonische Unbeugsamkeit, die im weltweiten Fußballsport gefürchtet wird. Jenen Willen, den es braucht, um die Widerstände eines Turniers zu überwinden. Reus hatte für den Ausgleich gesorgt (48.), viele andere Chancen blieben ungenutzt. Der Ball sprang vom Pfosten zurück. Jérôme Boateng sah die Gelb-Rote Karte (82.). Es hätte Gründe gegeben, nicht mehr daran zu glauben. „Es war auch ein Sieg der Moral“, lobte Löw. Kroos war anzusehen, dass er sich verantwortlich fühlte.

    Genugtuung überkam den 28-Jährigen später schnell. „Man hatte das Gefühl, relativ viele Leute in Deutschland hätte es gefreut, wenn wir heute rausgegangen wären. Aber so leicht machen wir es ihnen nicht“, ließ der Profi von Real Madrid wissen: „Wir wissen, dass wir viele Fans in Deutschland hinter uns haben. Aber mehr Hilfe kriegen wir nicht. Ich habe das Gefühl, dass es mehr Spaß macht, schlecht über uns zu reden und zu schreiben.“ Das Motiv des Spiels ging in die Verlängerung: Die Mannschaft – allein gegen alle Widerstände. Gegen wetternde Experten und vermeintlich hämische Berichterstattung.

    Vielleicht steckt in diesem Abend tatsächlich eine nicht zu verachtende Kraft des Gemeinsamen. Es gibt sie ja, diese Momente, die über das blanke Ergebnis hinaus etwas verändern. 2006 kam es zu einer ähnlichen Entladung des Glücks, ebenfalls am zweiten Vorrundenspieltag, ebenfalls in der Nachspielzeit. David Odonkor flankte, Oliver Neuville traf gegen die Polen. „Laut“ musste damals in Dortmund neu definiert werden. Auf dem Weg zum Titel 2014 wurde das spielerisch missratene Achtelfinale gegen Algerien zum Wendepunkt stilisiert. Die DFB-Elf war weitergekommen, und Verteidiger Per Mertesacker musste sich für das Wie rechtfertigen. „Wat woll’n Se?“, fragte er in die Fernsehkameras. Ein neuer Zusammenhalt war geschaffen: wir gegen die.

    So wie jetzt? Wagenburg 2.0? Initialzündung für das Turnier? „Es ist eine Vorlage, um gute Gefühle mitzunehmen, und ich hoffe, dass wir das transportieren können“, sagte Kroos.

    Deutschland: Neuer – Kimmich, Boateng, Rüdiger, Hector (87. Brandt) – Rudy (31. Gündogan), Kroos – Müller, Draxler (46. Gomez), Reus – Werner.
    Schweden: Olsen – Lustig, Lindelöf, Granquist, Augustinsson – Larsson, Ekdal –
    Claesson (74. Durmaz), Forsberg – Berg
    (90. Kiese), Toivonen (78. Guidetti).Tore: 0:1 Toivonen (32.), 1:1 Reus (48.), 2:1 Kroos (90.+5). Zuschauer:44.287 (ausverkauft). Schiedsrichter: Marciniak (Polen). Gelb-Rot: Boateng (82., wiederholtes Foulspiel). Gelb: Ekdal, Larsson.