Moskau. Sie können nicht mit ihm, aber auch nicht ohne ihn: Argentiniens Superstar Lionel Messi ist Problem und Lösung zugleich für die Nationalmannschaft

    Das Watutinki der Argentinier heißt Bronnizy, und auch dort im Basistrainingslager ist der russische Bär begraben. Die meisten der rund 50.000 mitgereisten Anhänger harren daher lieber im Zentrum Moskaus der Dinge. Was sie in den vergangenen Tagen aus der Vorstadt zu hören bekamen, klingt allerdings gar nicht gut. Lionel Messi, heißt es, sei deprimiert.

    „Ich übernehme die Verantwortung für das, was passiert ist“: Diese Schuldgefühle, die nach dem enttäuschenden 1:1 zum Auftakt gegen Island samt vergebenem Elfmeter nach der üblichen Floskel klangen, soll der Superstar vom FC Barcelona weiter mit sich herumschleppen. Für Argentinien kann es keine schlechtere Nachricht geben vor dem Spitzenspiel der Gruppe D an diesem Donnerstag (20 Uhr/ZDF) gegen Kroatien. Eine Niederlage würde das fast sichere Aus bedeuten, selbst ein Remis eine schwierige Konstellation vor dem letzten Gruppenspieltag.

    „Uns drohen Niederlagen, wir haben ernste Probleme“, warnt Diego Maradona (57). Während sie in Argentinien mal wieder über Messi debattieren, nahm ihn wenigstens der Nationalheld in seiner WM-Talkshow „De la Mano del Diez“ („Von der Hand des Zehners“) in Schutz: „Ich habe mal fünf Elfmeter in Folge verschossen und war immer noch Diego Maradona.“ Messi habe alles gegeben, das Problem sei, dass es niemanden gebe, der mit ihm spiele.

    „Wenn Messi gut drauf ist, wird es mehr meine Mannschaft sein als seine“ – das hatte Nationaltrainer Jorge Sampaoli im März gesagt. Und wenn er schlecht drauf ist? Sampaolis Satz ist in den vergangenen Monaten wieder und wieder zitiert worden. Er war ehrlich, aber er erhöhte noch weiter den Druck auf den fünffachen Weltfußballer. Und er enthielt eine problematische Botschaft. Als ob Messi nicht wie jeder noch so überragende Fußballer auch einen starken Trainer bräuchte.

    Die Aufgabe ist, Messi optimal zur Entfaltung zu bringen

    Der 58 Jahre alte Sampaoli, ein unkonformistischer Typ, wurde vor einem Jahr verpflichtet, weil man sich neue Ideen versprach. Aber längst ist er im gleichen Labyrinth gefangen wie etliche Vorgänger. Auch in den Tagen von Bronnizy geht es bisher nur um das eine: Wie kann man Messi optimal zur Entfaltung bringen? Dabei bräuchte es wohl erst einmal so etwas wie einen festen Spielstil, eine Partitur, auf die man in Stresssituationen zurückgreifen kann. Die Mannschaft vegetiert ohne Tempo und Überraschungsmomente im Mittelfeld und lässt sich über Gebühr von Rückschlägen treffen. Wie beim desas­trösen 1:6 in Spanien im März. Wie jetzt auch am Sonnabend, als sie keine Antwort auf den isländischen Ausgleich und Messis verschossenen Strafstoß fand.

    Selbst beim FC Barcelona ist der fünffache Weltmeister kein überragender Elfmeterschütze – aber die Zahlen mit Argentinien spotten seiner Klasse. Viermal bei sieben Versuchen hat er vom Punkt vergeben. Signal der Anspannung, unter die er sich gesetzt hat, um endlich mit seinem Land zu glänzen. Kann man etwas zu viel wollen?

    Am Dienstag meldete sich Messis Mutter Celia zu Wort. Sein Traum ist es, den Cup mitzubringen“, sagte sie dem argentinischen TV-Sender Canal 13. Die Kritik der vergangenen Tage habe die gesamte Familie des 30-Jährigen getroffen. „Wir leiden sehr darunter, wenn sie sagen, dass er nicht mit der argentinischen Elf mitfühlt, dass er aus Verpflichtung mitspielt, denn das ist nicht so.“ Zudem machten Gerüchte über eine angebliche Ehekrise die Runde. „Ich sage ihm, er solle den Moment leben, spielen wie auf dem Bolzplatz, auf dem er einst begann. Wir haben ihn weinen sehen. Diese Kritiken tun weh.“

    Und sie haben nachhaltigen Schaden hinterlassen. Durch den ewigen Verdacht, er würde sich für Argentinien nicht so zerreißen wie für Barcelona, wird Messi dazu gedrängt, gegen sein Naturell das Alphatier zu spielen – in Interviews voller patriotischem Pathos, aber auch auf dem Platz. Die Tendenz, das Spiel zu monopolisieren, wird dadurch immer ausgeprägter, Argentinien immer berechenbarer, das Loch neben ihm immer größer.

    Die Gemengelage ist so komplex wie auf der Couch eines Psychoanalytikers in der Neurosenhauptstadt Buenos Aires. Messi überfordert sich und verkrampft; die anderen verkrampfen beim Versuch, es ihm recht zu machen, verkleinern sich dabei über Gebühr und können ihn so erst recht nicht entlasten. Die „Generation Messi“, die sich mit der Junioren-WM 2005 und Olympiagold 2008 so triumphal ankündigte, hat bislang alle Träume enttäuscht. Ihre Finalniederlagen – zweimal in der Copa América, einmal bei der Weltmeisterschaft – waren sicherlich auch dem Pech geschuldet. Aber guten Fußball hat sie eigentlich nie gespielt.

    Aus Bronnizy hieß es nach dem Abschlusstraining vor der Abreise an den Spielort Nischny Nowgorod auch, dass Sampaoli gegen Kroatien nach seinen Überzeugungen aufstellen will, mit Dreierkette in der Abwehr und einem spielstarken Mittelfeld. Dass er sogar mit dem Gedanken spiele, Veteranen wie Ángel Di María oder Lucas Biglia zu opfern und eben nicht mehr nur den Willen Messis zu interpretieren. Das bedeutet, dass Sampaoli von nun an ein Trainer sein will und nicht mehr nur Erfüllungsgehilfe der Agonie.

    Argentinien: 23 Caballero – 2 Mercado, 17 Otamendi, 3 Tagliafico – 18 Salvio, 15 Mascherano, 13 Meza, 8 Acuña – 10 Messi, 19 Agüero, 22 Pavon.Kroatien: 23 Subasic – 2 Vrsaljko, 6 Lovren, 21 Vida, 3 Strinic – 10 Modric, 7 Rakitic – 18 Rebic, 9 Kramaric , 4 Perisic – 17 Mandzukic.Schiedsrichter: Irmatow (Usbekistan).