Kasan. Daheim ist Frauen der Stadionbesuch verboten. In Russland setzen die weiblichen Fans wichtige Zeichen der Gleichberechtigung

    An der Baumann-Straße von Kasan befindet sich einer der stimmungsvollsten Schmelztiegel dieser WM-Stadt. Nirgendwo ergeben lateinamerikanische Klänge aus angestaubten Lautsprecherboxen mit dem Singsang freudetrunkener Fußballfans ein dermaßen fröhliches Gemisch wie in der Cuba Libre Bar. Wie der Name verrät, soll hier vieles ans karibische Lebensgefühl erinnern. Allerdings verfügt der kleine Laden mit seinem Pavillon- und Hofbereich im Miniaturformat nur über ein begrenztes Fassungsvermögen.

    Am Montagabend wachten grimmige Sicherheitskräfte an der gusseisernen Eingangspforte über den Zutritt – wegen des großen iranischen Andrangs. Obwohl das zweite Gruppenspiel des Außenseiters gegen Spanien erst an diesem Mittwoch (20 Uhr/ARD) in der Kasan-Arena stattfindet, war ein Teil der erwarteten 15.000 Unterstützer schon zu Wochenanfang eingetroffen. Was in der Tatarenstadt auffällt: wie viele Frauen aus der Islamischen Republik sich bereits zwischen Tukai-Platz und Kasaner Kreml bewegen.

    „Wir wollen, dass sie mit uns ins Stadion gehen“, sagt Keyvan Sayahy. Sein Argument klingt einleuchtend: Wenn es in einer kubanischen Bar jedem freisteht, ob er Bier oder Tee trinkt, Tacos oder Lammfleisch isst, muss zur weltmeisterlichen Freiheit gehören, dass beide Geschlechter bei einem solchen Ereignis live dabei sind. Zum Beleg zeigt der 43-Jährige Bilder und Videos auf seinem Smartphone, die gerade erst in St. Petersburg entstanden sind. Bilder und Videos davon, wie beide Geschlechter die Sause nach dem 1:0-Erfolg gegen Marokko zelebrierten.

    Sayahy, der selbst in London mit einer Brasilianerin zusammenlebt, bekommt bei dem Thema leuchtende Augen. Jedem will er sagen, wie wichtig die Symbolik ist, wenn sich in den sozialen Netzwerken nun die nächsten Verbrüderungsszenen verbreiten, bei denen iranische Frauen sich umarmen lassen, in die Kameras lächeln, ja sogar gegnerische Fans küssen. „Wir brauchen diese Bilder, damit die Regierung etwas ändert.“ Sein Bruder Peyman nickt. Sechs Jahre hatten sich die beiden nicht gesehen, jeder bezog die Tickets über andere Kanäle, denn der jüngere lebt noch in Schiras, einer Großstadt im südlichen Zagros-Gebirge. Nun reisen sie nicht nur für die Unterstützung des Teams gemeinsam durch Russland, sondern auch für die Gleichberechtigung, die auch Ex-Bundesligaprofi Ali Daei befürwortet: „Ich hoffe, dass die Frauen eines Tages ins Stadions dürfen. Wir werden mehr Zuschauer haben. Die Frauen werden sich freuen, und die Männer werden versuchen, sich besser zu benehmen.“

    Seit der Islamischen Revolution 1979 ist es Frauen im Iran verboten, ein Fußballstadion zu betreten. Staatspräsident Hassan Rohani hat sich bislang nicht erweichen lassen. Im Frühjahr wurden fast drei Dutzend Frauen festgenommen, die ihren Fuß in ein Stadion hineinsetzen wollten. Die Sittenwächter glauben, dass die vulgären Äußerungen und die infernalischen Gesänge der Männer den Frauen nicht gut bekämen. Die Brüder Sayahy sind ganz anderer Meinung: „Wir sollten sie nicht verstecken.“ Die Schönheiten seien allerbeste Repräsentanten, wenn sie sich bunt geschminkt und mit offenen Haaren im Trikot präsentierten.

    Im Krestowski-Stadion tauchten vergangenen Freitag gegen Marokko mehrere Plakate auf, die ein „Ende des Banns“ einforderten. Der Weltverband Fifa schritt nicht ein, weil er die Bekundung als sozialen Appell und nicht als politische Botschaft verstand. Viele Iraner und Exil-Iraner waren erstaunt, wie offen danach Nationaltrainer Carlos Queiroz die US-Wirtschaftssanktionen gegen den Iran rügte. Der Portugiese beklagte sich, dass seine Mannschaft vom US-Konzern Nike keine Schuhe geliefert bekommen und zudem keine Testspielgegner und kein Trainingscamp gefunden habe. „Der Hauptwert der Fifa ist, die Politik beiseitezulassen, aber es ist total unfair für 23 Jungs, die es verdient haben, hier zu spielen.“

    Der 65-Jährige will daraus noch mehr Inspiration ableiten, um den scheinbar übermächtigen europäischen Fußball-Großmächten Spanien und Portugal nacheinander die Stirn zu bieten. Zur Motivation könnten sich seine Spieler ja Zahra Khoshnavaz als Vorbild nehmen. Die Aktivistin hatte sich in Teheran mit Vollbart und Wollmütze als Mann verkleidet, um einmal bei ihrem Lieblingsverein Persepolis zuzuschauen. Der ARD berichtete gerade von ihrem aufsehenerregenden Coup: „Als ich den grünen Rasen sah, musste ich weinen. Erst wenn man drin ist, weiß man, was man jahrelang verpasst hat.“ Ihre Gesinnungsgenossen aus Kasan sind überzeugt, dass der verbohrte Klerus bald nicht anders kann, als die Blockadehaltung aufzugeben. Für sie wäre es fast der wichtigste Sieg, den Iran bei dieser WM feiern könnte.

    Iran: 1 Beiranvand – 23 Rezaeian, 15 Montazeri, 8 Pouraliganji – 10 Ansarifard, 9 Ebrahimi, 3 Hajsafi, 7 Shojaei – 18 Jahanbakhsh, 20 Azmoun, 11 Amiri.Spanien: 1 de Gea – 4 Nacho, 3 Piqué, 15 Ramos, 18 Alba – 5 Busquets – 22 Isco, 21 Silva, 6 Iniesta, 10 Thiago – 19 Diego Costa.Schiedsrichter: Cunha (Uruguay).