Hamburg. Bei der deutschen Meisterschaft im Jazz und Modern Dance in der CU-Arena kämpfen zwei Hamburger Teams um die WM-Qualifikation

Sie war mit ihren Kindern auf einem Spielplatz und hörte Laurie Andersons verstörendes „Bright Red“ auf Dauerschleife. Die Ehefrau des verstorbenen Rockmusikers Lou Reed besingt in diesem Song mit dem Titel „Leuchtendes Rot“ eine schwierige Beziehung. Aus der Textzeile „Did she fall or was she pushed?“ entstand die Idee zur einer dramatisch-emotionalen Choreografie über häusliche Gewalt: Fiel sie oder wurde sie gestoßen?

„Ich wusste, das ist das Thema, das ich gesucht habe“, sagt Yvonne Jakobeit (40). Die Tanzpädagogin, zweifache Mutter und Angestellte bei der Lebenshilfe, ist auch in ihrem Alltagsleben stets auf der Suche nach inspirierenden Musikvorlagen. In der Freizeit trainiert sie die Jazz und Modern Dance-Gruppe „Topas“ der GFG Steilshoop. Die ist das, was man im Fußball eine Fahrstuhlmannschaft nennt. Manchmal tanzt sie in der Zweiten Liga, meist aber in der Bundesliga, dort, wohin sie in diesem Jahr wieder aufgestiegen ist.

Der Mann macht nur mit, die Chefs sind weiblich

Also stellte Jakobeit die Idee ihrer Formation vor, und die reagierte begeistert. In Kooperation mit Co-Trainerin Maria Lochmann sowie den Tänzerinnen entstand jener vierminütige Vortrag, den sie an diesem Sonnabend in der CU-Arena (Start 18 Uhr/15 bis 25 Euro Eintritt) in Neugraben bei den deutschen Meisterschaften vorstellen werden. Der einzige Mann zwischen den Frauen tanzt allerdings nicht die Hauptrolle. Das zu betonen ist der ehemaligen Mittänzerin Jakobeit wichtig: „Bloß kein Klischee.“

Konkurrenz kommt für den Wiederaufsteiger aus der eigenen Stadt vom SV Eidelstedt. Dort hat die Formation „La Nouvelle Expérience“ (LNE) in den vergangenen sechs Jahren einen beeindruckenden Durchmarsch bis in die nationale Spitze hingelegt. Anders als bei „Topas“, die sich als Ableger der Tanzsportabteilung eines etablierten Vereins aus einem ergiebigen Pool an eigenen Nachwuchstänzerinnen und -tänzern bedienen können, setzen die Eidelstedter hauptsächlich auf Profis. „Unsere Wurzeln sind andere“, erklärt Trainerin Anna Kriete. „Wir sind 2011 als Projekt gestartet. Einen Unterbau gab es damals nicht.“ Das hat sich inzwischen allerdings geändert.

Verletzungen Umzüge und privatesachen haben das Team dezimiert

Kriete ist 35 Jahre alt und Absolventin der weltberühmten Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. Bis zur Geburt ihres zweiten Kindes vor einem halben Jahr arbeitete sie frei als Dozentin an der Stage School. Das Thema, das ihre Formation vortragen wird, trägt den Titel „Herr“ aus der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Auch dieses Stück ist anspruchsvoll, emotional und soll anrühren. „Wir wollen Expressionen ans Publikum senden“, sagt Kriete. Allerdings hat „La Nouvelle Expérience“ in diesem Jahr ein gravierendes Problem. Verletzungen, Umzüge, private Ereignisse haben das Team ziemlich dezimiert. Die übrig gebliebenen sechs Tänzerinnen und zwei Tänzer müssen deshalb überzeugend schaffen, was eine eigentlich größere Formation auf der Fläche genannten Bühne zeigen sollte. Die Choreographie, die erstmals der Kroate Tomislav Jelicic entwickelte, wurde entsprechend an die kleinere Gruppengröße angepasst. Starker Ausdruck im Tanz gepaart mit unterstützender Akrobatik sollen die Jury überzeugen. „Wir sind gut vorbereitet“, sagt die Trainerin. Ihre optimistische Haltung vor dem wichtigen Event: „Bislang hat alles gut funktioniert.“

Die deutsche Meisterschaft nach Hamburg zu holen, war ein kleiner Kraftakt. Tanzen ist eine Randsportart und stets auf der Suche nach finanziellen Zuwendungen, weshalb Auftritte den Charakter von Klassenreisen haben. Der ausrichtende Verein SV Eidelstedt wird zwar von der Sparkasse und dem städtischen Projekt „Active City“ unterstützt, doch die 14 Teams (acht Bundesligisten, sechs aus der Zweiten Liga) bekommen die Fahrtkosten erstattet. Auch das Umrüsten der auch von den Zweitligafrauen des Volleyball-Teams Hamburg genutzten Sporthalle auf Tanzbedürfnisse sowie das ausgelagerte Catering kosten. Ehrenamtliches Engagement der Vereinsmitglieder ist deshalb ebenso gefragt wie die Nachbarschaftshilfe aus Steilshoop. Deren Tanzboden wurde für die nationale Großveranstaltung ausgeliehen, und sogar beim Verlegen hat die Konkurrenz geholfen. „Wenn wir am Ende plus/minus null rauskommen, sind wir froh“, sagt Abteilungsleiter Enrico Tschöpel.

800 Zuschauer werden erwartet

Auch er ist vom Fach. Der ehemalige Standardtänzer hatte während seiner aktiven Zeit als Partnerin die heutige Trainerin Anna Kriete. Tschöpel hofft, dass die deutsche Meisterschaft dem Jazz und Modern Dance noch mal einen Kick gibt – auch in Hamburg. „Wir sind stolz, unseren Sport auf höchstem Niveau vor heimischem Publikum präsentieren zu können“, sagt er. 800 Zuschauer werden am Sonnabend für die Darbietungen der Hauptgruppe erwartet. Am Sonntag (ab 13 Uhr) tanzen dann die Jugendlichen ihre Besten aus.

Favorisiert sind allerdings andere. Die Formationen aus Saarlouis („Autres Choses“) und Wuppertal („Arabesque“) belegen bei den nationalen Wettkämpfen meist die vorderen Plätze. Doch die Hamburger haben ein zusätzliches Ziel: Sollte es am Ende zu einer Platzierung unter den besten drei reichen, wäre sogar die Qualifikation für ein internationales Event geschafft: die Weltmeisterschaft Ende des Jahres in Polen.