Heimaey. Die Inselfußballer waren die Überraschung der EM 2016. Nun soll die Erfolgsgeschichte in Russland weitergehen. Ein Heimatbesuch

    Wer den Erfolg von Islands Fußballnationalmannschaft verstehen will, braucht einen starken Magen. Seit zweieinhalb Stunden kämpft sich Herjólfur nun schon durch den Atlantik. Wind und Wellen lassen die kleine Autofähre so heftig schwanken, dass die Passagiere an Deck abwechselnd Meer oder Himmel durch die nassen Scheiben sehen. Doch die meisten Fahrgäste sind da längst unter Deck verschwunden. Dem Magen zuliebe. Heimir Hallgrímsson gehört nicht zu ihnen.

    Für den isländischen Nationaltrainer ist die knapp dreistündige Überfahrt nach Heimaey Routine. Die Vulkaninsel vor der Südküste Islands ist sein Zuhause. Hier ist er geboren, aufgewachsen, hat bei Íþróttabandalag Vestmannaeyjar das Kicken gelernt. Schon mit 17 Jahren merkte er aber, dass er etwas anderes noch viel lieber mag: coachen.

    Doch der Fußball führt Hallgrímsson an diesem windigen Märztag nicht nach Hause. Die meiste Arbeit als Nationaltrainer spielt sich schließlich in Reykjavík ab, wo der 50-Jährige ebenfalls eine Wohnung hat. Hallgrímsson ist unterwegs zu seinem zweiten Job.

    Entgegen anderslautender Berichte arbeitet er nämlich weiter als Zahnarzt. Nicht mehr so häufig wie vor seiner Beförderung zum alleinigen Cheftrainer, erst zwei, drei Tage in diesem Jahr, sagt er, aber nun brauchen die Kollegen seine Hilfe. Gestern noch Sotschi, Unterkünfte für die Weltmeisterschaft besichtigen, jetzt wieder Heimaey, Zahnstein entfernen.

    Natürlich könnte Hallgrímsson den weißen Kittel an den Nagel hängen. Doch die Praxis gehört nun mal ihm, sie liegt unten in seinem Haus, er fühlt sich verantwortlich, dass alles rundläuft. Und überhaupt: „Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten. Das entspannt mich.“ Was in den vergangenen Jahren auch nötig war. Seit Islands furiosem Auftritt bei der EM 2016 ist der Hype um das Team nicht abgeebbt. Halb Europa verliebte sich damals in das Überraschungsteam aus dem Norden, in seinen Kampfgeist und die leidenschaftlichen Fans, deren Wikingerschlachtruf berühmt wurde. Plötzlich feierten auch Kinder auf deutschen Bolzplätzen ihre Tore mit einem „Huh!“.

    Nicht wenige dürften den 2:1-Sieg über England im Achtelfinale damals als One-Hit-Wonder abgetan haben. So wie die Leistungen anderer Überraschungsteams wie Wales, Albanien oder Ungarn. Keine dieser Mannschaften hat sich für die WM in Russland qualifiziert. Island schon, zum ersten Mal in seiner Geschichte.

    Die Erklärung für diesen Erfolg findet man auf Heimaey. Keine fünf Minuten Autofahrt vom Hafen entfernt liegt das Sportzentrum der Insel. Hallgrímsson möchte alles zeigen: das 1500 Zuschauer fassende Stadion Hásteinvöllur, in dem er mit dem ansässigen Frauenteam Vizemeister und Pokalsieger wurde, später dann die Männer zurück in die Erste Liga und den Europapokal führte. Aber auch die drei weiteren Fußballfelder, die Indoor-Arena, die drei Handballhallen, das Frei- und das Hallenbad. Heimaey hat 4300 Einwohner.

    Viel Geld ist in den letzten 20 Jahren in den Sport investiert worden. Doch dass Islands Fußballer dank Hallen und Kunstrasen nun endlich auch im Winter trainieren können, erklärt alleine noch nicht den rasanten Aufstieg in der Weltrangliste: von Rang 112 im Jahr 2010 auf aktuell Platz 22. Entscheidend ist etwas anderes: die Mentalität.

    Auf Heimaey war die einst besonders nötig. Am 23. Januar 1973, Hallgrímsson war damals fünf Jahre alt, spuckte die Insel Feuer. Wenige Hundert Meter vom Stadtkern entfernt bildete sich ohne Vorwarnung ein neuer Vulkan. Der heutige Eldfell begrub Häuser unter Asche, Lava strömte Richtung Hafen. Dass keiner der damals noch 5000 Einwohner bei dem Ausbruch starb, lag an einem glücklichen Zufall. In der Nacht zuvor war das Wetter so schlecht, dass die Fischer nicht aufs Meer hinausfahren konnten. Alle Kutter lagen noch im Hafen – und boten genug Platz, um die Bewohner zu retten.

    Ob die Eindrücke, die Hallgrímsson von diesem Tag im Gedächtnis hat – den brennenden Berg, den üblen Fischgeruch auf dem schwankenden Boot – wirklich seiner Erinnerung entspringen oder doch den Erzählungen anderer, das weiß er nicht genau. Eines weiß er seitdem sicher: Menschen können große Kräfte entwickeln, wenn sie zusammenhalten. Wer Lavaströme davon abhalten kann, den einzigen Hafen der Insel zu zerstören, der kann auch scheinbar übermächtige Gegner bezwingen.

    Starkult hat auf Island kaum Platz. Wenn Hallgrímsson durch die Sporthallen läuft, ist er Nachbar, Freund, Verwandter. „Na, wie geht’s? Alles gut?“ Ein kurzer Plausch hier, Abklatschen mit den Nachwuchskickern dort. „Der Einzelne ist nicht so wichtig“, sagt Hallgrímsson. „Der Teamspirit ist unsere stärkste Botschaft an die Welt.“ Und: „Jede Mannschaft ist schlagbar.“

    Er beobachtet die Minikicker in einer der Hallen. Ein Junge trägt ein auffällig orangefarbenes Trikot. Rückennummer 10. „Messi“. „Sofort ausziehen!“ Hallgrímsson lacht. Argentinien wird an diesem Sonnabend (15 Uhr/ZDF) Islands erster WM-Gegner sein. Es folgen Kroatien und Nigeria in der Gruppe D. Dass die Isländer bei der EM vor zwei Jahren erst im Viertelfinale an Gastgeber Frankreich scheiterten, macht die Sache nicht leichter. „Wir haben den Status als Underdog verloren, die Teams spielen jetzt einen anderen Stil gegen uns.“ Und auch bei den eigenen Fans steigen die Erwartungen. „Früher waren sie mit einem Remis zufrieden, jetzt erwarten sie Größeres.“

    Seit sieben Jahren ist Hallgrímsson Stammgast bei den Tólfan, dem Fanclub der Nationalelf. Vor jedem Spiel schaut er in ihrer Kneipe in Reykjavík vorbei, erklärt Startelf und Taktik. Begonnen hat der Coach damit, weil er die Handballnation für Fußball begeistern wollte. Heute ist das nicht mehr nötig. „Wir tun gut daran, anders zu bleiben“, sagt Hallgrímsson und stoppt vor einem Wohnhaus, das sich nicht von den anderen auf der Insel unterscheidet. Die Tür muss er nicht aufschließen, sie steht offen, wie fast überall auf Island. Nur die großen Panoramafenster, die hat nicht jeder. Hallgrímsson kann von der obersten Etage bis aufs Festland blicken. Vorbei am Eldfell, hinüber zum inzwischen berühmteren Vulkan Eyjafjallajökull. „Die Isländer denken, sie sind anders, weil sie isoliert sind. Härter, besser, glücklicher“, sagt er. „Wir auf Heimaey sind noch mehr: die übertriebene Version der Isländer.“ Huh!

    Argentinien: 23 Caballero – 18 Salvio, 17 Otamendi, 16 Rojo, 3 Tagliafico – 5 Biglia,
    15 Mascherano – 13 Meza, 10 Messi, 11 di María – 19 Agüero.
    Island: 1 Halldórsson – 2 Sævarsson, 14 Árnason, 6 Sigurdsson, 18 Magnússon – 7 Gudmundsson, 17 Gunnarsson, 20 Hallfredsson, 8 Bjarnason – 10 Sigurdsson – 11 Finnbogason.Schiedsrichter: Marciniak (Polen).