Köln. Ex-HSVer Heung-Min Son, Asiens Fußballer des Jahres, ist wohl der größte Star, auf den die DFB-Auswahl in der WM-Vorrunde trifft

    Terminabsprachen mit Heung-Min Son sind in etwa so ambitioniert wie Eins-gegen-eins-Situationen gegen den pfeilschnellen Südkoreaner als letzter Abwehrspieler. Der frühere HSV-Profi ist spontan, unorthodox – und unberechenbar. Auf und abseits des Rasens.

    Deswegen fand das Interview, das eigentlich kurz vor der WM in Sons Wahlheimat London geführt werden sollte, plötzlich in Köln statt. Er sei mit seinem Ex-Tottenham-Kollegen Kevin Wimmer in dessen ehemaligem Wohnort verabredet, ob man das seit Wochen vereinbarte Gespräch nicht lieber dort statt in London führen könnte, fragte der frühere Hamburger zwei Tage vor dem eigentlichen Termin.

    Man konnte. Knapp 48 Stunden später sitzt Heung-Min Son, schwarze Turnschuhe, schwarze Jogginghose, schwarzes T-Shirt, schwarzes Cap, mit Kevin Wimmer in der L’Osteria am Kölner Rudolfplatz. Die beiden Fußballer haben Pasta und Pizza bestellt. „Auch Hunger?“, fragt Son höflich.

    Herr Son, was entgegnen Sie uns, wenn wir behaupten, dass Südkorea in einem Atemzug mit Deutschland, Brasilien, Argentinien und Spanien bei der WM genannt werden muss?

    Heung-Min Son: Dass Sie verrückt sind!?

    Verrückt ist, dass Deutschland, Brasilien, Argentinien, Spanien und eben Südkorea die einzigen Nationen sind, die seit 1986 immer bei den Weltmeisterschaften dabei waren.

    (lacht): OK, das ist tatsächlich nicht so schlecht. Darauf darf man als Südkoreaner auch ein bisschen stolz sein. Aber in Russland wird uns die glorreiche Vergangenheit auch nicht wirklich weiterhelfen, schon gar nicht in dieser schweren Vorrundengruppe mit Schweden, Mexiko und natürlich Deutschland.

    Ist Südkorea wirklich nur der Außenseiter in der Gruppe F?

    Wir sind auf jeden Fall der krasse Außenseiter. Deutschland ist der große Favorit. Aber Schweden und Mexiko sind auch verdammt schwere Gegner im Kampf um Platz zwei. Ich hoffe sehr, dass Deutschland seine ersten beiden Spiele auf jeden Fall gewinnt.

    Was haben Sie bei der Auslosung im Dezember gedacht, als Südkorea als letztes Los der Gruppe F zugelost wurde?

    Puh. Ich habe die Auslosung in meiner Wohnung in London im Fernsehen gesehen. Für uns ist das schon eine Hammergruppe, aber gleichzeitig habe ich mich natürlich auch über das Los Deutschland gefreut. Auch bei Olympia 2016 mussten wir ja in der Vorrunde gegen Mexiko und Deutschland ran.

    Sie waren neun Jahre alt, als Deutschland das letzte Mal bei einer WM auf Südkorea traf. Können Sie sich noch an das Halbfinale 2002 erinnern?

    Klar. Ballack, Linksschuss, 0:1. Eine Viertelstunde vor Schluss.

    0:1 bei der Heim-WM zu verlieren, muss für Sie als Kind bitter gewesen sein.

    Ganz im Gegenteil. Ich kann mich noch genau erinnern, dass wir alle unglaublich stolz auf unsere Nationalmannschaft waren. Wir haben richtig toll gespielt – auch gegen Deutschland. Ganz Korea lief während der Weltmeisterschaft im roten T-Shirt herum. Auch alle meine Schulfreunde und ich hatten den ganzen Sommer über ein rotes Shirt an. Und ich weiß noch, dass wir auch gegen Deutschland echt gut waren. Aber dann kam Michael Ballack und am Ende haben wir eben knapp verloren. Trotzdem war das ganze Land stolz auf die Nationalmannschaft. Gegen Deutschland darf man verlieren.

    Sie selbst sind wenige Jahre nach der WM im eigenen Land nach Hamburg gekommen und haben insgesamt sieben Jahre in Deutschland gelebt. Ist Deutschland so etwas wie Ihre zweite Heimat?

    Vor allem Hamburg wurde meine zweite Heimat. In Leverkusen habe ich auch gerne gespielt und gewohnt, aber Hamburg ist noch immer eine ganz besondere Stadt für mich.

    Erinnern Sie sich noch an Ihre Anfangszeit im HSV-Internat in Norderstedt vor den Toren Hamburgs?

    Das vergisst man doch nicht. Ich bin mit 15 oder 16 Jahren nach Norderstedt gekommen und alles war fremd. Ich konnte ja nicht nur nicht die Sprache, sondern auch die Schriftzeichen habe ich nicht verstanden. Ich dachte mir: Wo bin ich hier nur gelandet? Wir waren am Anfang zu dritt und eine Busreise in die Innenstadt wurde zum echten Abenteuertrip.

    Warum das?

    Das klingt komisch, aber wir mussten ja erst einmal das Abc lernen. Wir wussten also gar nicht, wohin der Bus fuhr. Aber auch das Essen war am Anfang ein wenig abenteuerlich. Zum Frühstück gab es keine Suppe wie in Südkorea, sondern Nutella-Brötchen.

    Verrückt.

    Ja, aber daran habe ich mich schnell gewöhnt (lacht). Ich habe nie wieder so viele Nutella-Brötchen wie damals gegessen.

    Trotz Nutella-Brötchen sind ihre beiden Landsmänner relativ schnell wieder zurück in die Heimat gegangen.

    Aber ich wollte unbedingt bleiben. Schon als Kind war es immer mein Traum, irgendwann mal in der deutschen Bundesliga oder in der englischen Premier League zu spielen. Und diesen Traum wollte ich so einfach nicht aufgeben.

    Was hat Ihre Mutter zu Ihrem Traum gesagt?

    Natürlich hat sie sich große Sorgen gemacht. Aber sie war auch unglaublich stolz auf mich. Nicht nur wegen des Fußballs. Ich habe auch wie verrückt Deutsch gelernt. Am Anfang haben sich meine Internatskollegen immer über mich lustig gemacht, weil ich kein Deutsch sprach, es aber trotzdem immer wieder versucht habe. Doch je besser meine Deutschkenntnisse wurden, desto wohler fühlte ich mich auch in meinem neuen Zuhause.

    Hatten Sie kein Heimweh nach Südkorea?

    Doch. Klar. Das alles ist zwar nicht einmal zehn Jahre her, aber gefühlt ist es eine Ewigkeit her. Damals gab es zum Beispiel noch keine Smartphones. Ich konnte also nicht einfach mal Facetime benutzen, eine WhatsApp-Nachricht schicken oder ein paar Bilder auf Insta­gram posten. Um mit meiner Mutter zu chatten, musste ich im Internat immer in unseren Computerraum gehen und ganz oldschool mich bei Skype einwählen. Die Leitung war immer wackelig

    In Hamburg wurden Sie auch ohne Standleitung Publikumsliebling, bei Bayer Leverkusen ein Bundesligastar und in Tottenham ein Weltstar. Wie ist aus dem Jungen, der im Computerraum des HSV-Internats in die Heimat geskypt hat, Asiens Fußballer des Jahres geworden?

    Gute Frage. Für mich ging es immer nur um Fußball. Ich lebe Fußball, ich atme Fußball, ich träume von Fußball. Das war auch schon so, als ich noch im HSV-Internat in Norderstedt war. Als die Jungs nachmittags Tischtennis gespielt haben, bin ich mit dem Ball auf den Platz gegangen, um meine Schusstechnik zu trainieren. Irgendwann haben sie mir gesagt, dass ich auch mal vom Fußball abschalten müsste. Dann habe ich heimlich weitertrainiert. Manchmal sehne ich mich nach der Zeit von damals zurück.

    Warum?

    Damals hatte ich meine ganze Profikarriere noch vor mir. Ich bin zwar erst 25 Jahre alt, aber knapp die Hälfte meiner Karriere ist schon vorbei. Und wenn es nach mir ginge, dann würde ich mein ganzes Leben lang Fußball spielen. Es gibt nichts Schöneres für mich.

    Schon bei der Südkoreareise des HSV 2012 wurden Sie in Ihrer Heimat wie ein Popstar gefeiert. Ist Ihnen der ganze Hype um Ihre Person manchmal ein wenig unheimlich?

    Überhaupt nicht. Natürlich ist der Rummel groß, wenn ich in der Heimat bin. Aber ich genieße das sogar. Ich mag es, wenn man mich auf der Straße anspricht, mich nett um ein Autogramm oder ein Foto fragt. Als Kind träumt man doch davon, dass man irgendwann mal ein berühmter Fußballer ist. Und jetzt bin ich ein berühmter Fußballer.

    Gab es einen Spieler, den Sie als Kind angehimmelt haben?

    Cristiano Ronaldo. Das war immer mein Lieblingsspieler. Als ich noch klein war, wurden in Südkorea viele Spiele von Manchester United übertragen, weil Ji-Sung Park dort gespielt hat. Und Ronaldo war schon zu seiner Zeit in Manchester ein Weltklassespieler. Ich liebe seine Spielweise bis heute.

    Sie könnten mit Südkorea frühestens im Halbfinale auf Portugal und Ronaldo treffen.

    Das wäre ein Traum. Ich bin zwar selbst Fußballprofi, aber irgendwie ist Ronaldo noch immer mein Idol. Letztens haben wir in der Champions League gegeneinander gespielt …

    Und? Wie war das?

    Ich habe jede Woche besondere Spiele: wir spielen gegen ManU, Chelsea, Man-City. Aber die Spiele mit Tottenham gegen Real Madrid waren anders. Plötzlich stehst du auf dem gleichen Rasen mit dem Spieler, den du als Kind verehrt hast. Wahnsinn. Ich kann das noch immer nicht so richtig glauben.

    Haben Sie Trikots getauscht?

    Ne. Ich habe mich nicht getraut. Viel-leicht holen wir das bei der WM nach (lacht).

    Vor Ronaldo geht es aber erst einmal gegen das DFB-Team. Deutschland hat nur zweimal gegen Südkorea bei einer WM gespielt. 2002 und 1994, als …

    ... wir in der Vorrunde leider 2:3 verloren haben. Ich war zwar erst zwei Jahre alt und ich kann mich an das Spiel natürlich nicht mehr erinnern. Aber ich habe die Tore später noch so oft auf YouTube gesehen, dass ich das Gefühl habe, doch schon dabei gewesen zu sein. Jürgen Klinsmann hat zweimal getroffen. Auf ihn wird man in Tottenham noch immer angesprochen. Der ist so etwas wie ein Held hier.

    Ist Deutschland auch ohne Klinsmann Ihr WM-Favorit?

    Auf jeden Fall. Bei so einer WM kann vieles passieren, aber Deutschland ist die Nummer eins der Fifa-Rangliste, Deutschland ist Weltmeister und Deutschland hat ganz einfach auch die beste Mannschaft der Welt. Genau wie vor vier Jahren in Brasilien.

    Haben Sie beim WM-Finale 2014 Deutschland die Daumen gedrückt?

    Klar. Dabei musste ich mich echt konzen­trieren, nicht einzuschlafen.

    Wie bitte?

    Wir waren in Brasilien ja leider schon nach der Vorrunde raus. Ich habe dann Heimaturlaub in Südkorea gemacht. Und durch den Zeitunterschied war das Spiel mitten in der Nacht. Ich bin dann um 21 Uhr ins Bett gegangen und habe mir den Wecker gestellt. Und obwohl das Spiel superspannend war, war ich hundemüde. Und dann gab es auch noch Verlängerung. Meine Augen sind dann immer wieder zugefallen. Und irgendwann machte ich die Augen auf – und Deutschland war Weltmeister.

    Was macht die deutsche Mannschaft diesmal aus Ihrer Sicht so stark?

    Schauen Sie sich doch einfach mal den Kader an. Deutschland hat nicht einen Weltstar und auch nicht elf Weltstars. Deutschland wird bei der WM 23 Weltstars haben. Nur ein Beispiel: Leroy Sané. Der Typ ist unglaublich – und ist bei der WM noch nicht einmal nominiert. Ihr habt wirklich eine tolle Mannschaft.

    Sie klingen fast wie ein Fan.

    Ich bin ein Fan. Letztens habe ich mir das Länderspiel zwischen Deutschland gegen Spanien im Fernsehen angeschaut. Das war echter Hochgenuss. Es bringt einfach großen Spaß, Deutschland zuzuschauen. Und trotzdem werden wir im letzten Gruppenspiel alles daran setzen, dass auch wir unseren Spaß haben.

    Und was macht Südkorea aus?

    Das verrate ich nicht. Das werdet ihr hoffentlich wissen, nachdem wir gegen euch gespielt haben. Nur so viel: Natürlich haben wir nicht diese ganzen Superspieler, die Deutschland hat. Aber wir arbeiten hart, sehr hart.

    Südkorea hatte große Probleme in der Qualifikation. Woran lag’s?

    Wir haben uns tatsächlich schwer getan. Allerdings sind manche Spiele auch nicht so leicht, wie man sich das vorstellt. Auswärts in Usbekistan zu gewinnen ist ähnlich schwer wie für europäische Mannschaften auswärts in Island zu gewinnen. Jeder erwartet einen klaren Sieg, dabei wird aber vergessen, dass dort eben auch guter Fußball geboten wird.

    Sie haben mal gesagt, dass Sie davon träumen, irgendwann den Ballon d’Or als bester Fußballer der Welt zu gewinnen.

    Als ich ein Kind war, hat mein Vater zu mir gesagt: Große Träume sollst du haben. Als Kind habe ich also davon geträumt, bester Fußballer der Welt zu werden. Jetzt bin ich erwachsen – aber der Traum lebt weiter.

    Und was macht der Vielleicht-irgendwann-mal-beste-Fußballer-der-Welt am 15. Juli?

    Kevin Wimmer (unterbricht): Urlaub.

    (Son lacht): Ne, das WM-Finale spielen. Zumindest davon träumen darf ich ja, oder?