Montreal. Der Große Preis von Kanada gilt als Grand Prix der großen Herausforderungen. Selten endet ein Rennen ohne Unfälle und das Safety-Car

    Er ist so etwas wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Draufgängerisch. Auch nicht ungefährlich. Ein echter Drama-Grand-Prix. Also das Gegenteil dessen, was die Formel 1 der Zukunft sein soll: stromlinienförmig, weil angepasst, eher familienfreundlich und vor allem berechenbar und möglichst unfallfrei. Der Circuit Gilles-Villeneuve in Montreal, die Rennstrecke des Großen Preises von Kanada, ist in etwa auf dem Niveau von 1968 stehen geblieben. Damals feierte sie im Rennstrecken-Kalender ihr Debüt. Und seither hat sie einen Sonderstatus. Denn dieser WM-Lauf hat Charakter.

    Nirgendwo wird härter gebremst, selten der Motor so strapaziert wie auf der temporären Piste auf der Insel mitten im Sankt-Lorenz-Strom. Das permanente Stop-and-go bedeutet ein Stakkato für die Rennfahrerfüße. Von Tempo 300 runter auf 80, und dann wieder Vollgas bis zum nächsten Haken. Der Kopf muss kühl bleiben, was angesichts der permanent lauernden Herausforderungen ähnlich schwer zu bewerkstelligen ist wie die Kühlung von Motor und Bremsen. Dazu die Ungewissheit von Wetter, Reifen und Streckenbelag, sogar die Kapriolen des Windes haben hier schon Rennen entschieden.

    Kurz vorm Zielstrich lauert dann noch eine gefährliche Mauer auf die Piloten, nahe der Ideallinie und wegen der prominenten Unfallopfer Wall of Champions getauft. Jacques Villeneuve, Sohn des lange verstorbenen Namensgebers, crashte sowohl in seinem Weltmeisterjahr 1997 mit einem Williams in die Mauern als auch zwei Jahre später, damals mit einem BAR-Boliden. Zur Unterhaltung der 100.000 Zuschauer ist zudem eine dritte Beschleunigungszone eingeführt worden – Action für die richtigen Race-Fans, die hier das Publikum stellen. Auf dieser Strecke ist Überholen erwünscht und möglich.

    Zum Ende des ersten Saisondrittels also die große Kraftprobe. Renault rüstet die Motoren für die Angreifer Daniel Ricciardo und Max Verstappen auf. Die physikalische Aggression in Kombination mit der menschlichen. Der niederländische Pistenrowdy hat schon angekündigt: „Hört auf, immer über das Gleiche zu reden. Ich werde meinen Stil nie ändern.“ Sogar eine Kopfnuss droht Verstappen Nachfragern an.

    Die Ansage könnte ins Muster des kanadischen Grand Prix passen, denn noch selten hat es auf der Île Notre-Dame keine Safety-Car-Phase gegeben. Auch Ferrari spielt mit der Freigabe von zusätzlichen Pferdestärken. „Wir haben alles dabei, was wir aufbieten können“, verspricht Sebastian Vettel, der 14 Punkte hinter WM-Spitzenreiter und Mercedes-Pilot Lewis Hamilton liegt. „Es war sehr eng in den bisherigen Rennen, es hängt an Kleinigkeiten“, sagt Vettel. „Alle drei Teams sind mehr oder weniger auf Augenhöhe. Wir werden am Sonnabend alles offenlagen, und dann sehen wir, wo wir stehen.“ Ferrari hatte die neue Ausbaustufe schon im letzten Rennen von seinen Kundenteams Sauber und Haas ausprobieren lassen.

    Andererseits: Kanada ist Lewis-Hamilton-Land. Der Brite hat das Rennen schon sechsmal gewonnen. Aber entgegen der schon erwartungsfroh kommunizierten Mercedes-Hoffnung wird an diesem Wochenende keine neue Motorenausbaustufe im Silberpfeil stecken. Tatsächlich ein in letzter Minute entdecktes Qualitätsproblem, jene Abweichungen von 0,2 Millimeter am Kurbelgehäuse? Oder doch mehr Strategie, um einen noch ausgereifteren Turbo zu einem späteren, entscheidenden Punkt der Saison zu bringen?

    Mercedes wird ohne neuen Motor an den Start gehen

    Tabellenführer Lewis Hamilton sieht jedenfalls ein „schwieriges Wochenende“ auf sich zukommen: „Wenn die anderen neue Motoren haben, werden wir nicht kämpfen können. Das ist ausgesprochen unglücklich“, sagt er. „Das Einzige, auf das ich hoffe, ist unsere Zuverlässigkeit. Es ist nun schon das siebte Rennen mit demselben Motor. Allerdings: Mit steigender Laufleistung verliert man immer mehr Power. Auf einem Kurs wie Montreal sind die negativen Auswirkungen dann umso größer.“

    Etwa 0,1 bis 0,2 Sekunden Zeitgewinn pro Runde bringen die neuen Aggregate der Konkurrenz, das summiert sich über 70 Runden und bei den generell knappen Abständen auf der kurzen, nur 4,3 Kilometer langen Runde. „Nach sechs Rennen können wir erkennen, dass wir uns in beiden Weltmeisterschaften in einer stärkeren Position befinden als vor einem Jahr“, sagt Mercedes-Teamchef Toto Wolff. „Aber uns ist ebenso bewusst, dass der Kampf viel härter geführt wird. Es gibt keine Zeit, um sich auszuruhen.“

    Für Ferrari und Red Bull sprechen die vielen engen Kurven von Montreal, der Traktionsvorteil und der Einsatz der Hyper-Soft-Reifen. Mercedes hat den Vorteil der sogenannten Fahrbarkeit der Leistung und der Bremsstabilität. Es ist auch das Rennen der besonders kleinen Heckflügel, die den Luftwiderstand senken und mehr Spitzengeschwindigkeit versprechen. Die Aerodynamik ist in Montreal besonders diffizil – wer nur an die Geraden denkt, verliert in den Kurven. Es ist das Rennen für die Piloten, die alles können: vor allem sich und das Auto ans Limit bringen.