Eppan. Kein Nationalspieler ist so verletzungsanfällig wie der Dortmunder Stürmer. Diesmal vertraut er seinem Körper.

Marco Reus (29) erinnert sich noch genau. Wie Zinédine Zidane dieses Finale 1998 in Paris entschied, wie er zwei Kopfballtore gegen Brasilien machte und Frankreich mit 3:0 zum Titel führte. Vom Turnierbeginn bis ganz zum Schluss. Immer da. Immer präsent. Noch heute schwärmt er von dem Kollegen, weil dieser das Besondere im Fuß hatte. „Das ist meine erste richtige Erinnerung an eine Weltmeisterschaft“, sagt Reus auf der Terrasse des Nationalmannschaftshotels in Eppan an der Weinstraße. Damals war er neun Jahre alt. 20 Jahre später wird Reus selbst an einer WM teilnehmen. Erstmals. Viel zu lang dauerte das. Viel zu weh tat die Zeit des Wartens. Jetzt soll, jetzt kann es sein Sommer werden. Ein bisschen Zidane sein. Warum eigentlich nicht?

Die Frage ist berechtigt. Am Donnerstag ist es vier Jahre her, dass der Profi von Borussia Dortmund das Flugzeug nach Brasilien nicht besteigen konnte. Sprunggelenksverletzung im letzten Testspiel gegen Armenien. WM-Aus 24 Stunden vor der Abreise. Die Mannschaft kam mit dem goldenen Pokal zurück. Weltmeister. Reus sah das Finale am Fernseher. Ob das Schicksal ihm etwas schuldet? „Dann müsste ich ja noch achtmal deutscher Meister werden und zweimal Weltmeister.“ Reus lacht über seinen Scherz, der aber eigentlich bittere Wahrheit ist. 2016 hätte er vielleicht der entscheidende Spieler sein können, um das verflixte Tor im Halbfinale gegen Frankreich zu schießen. Reus schaffte es wegen einer nicht abklingenden Schambeinverletzung nicht in den EM-Kader. Abreise aus dem Trainingslager. Wieder kein großes Turnier für einen, der seit Jahren zu den besten Fußballspielern des Landes gehört.

Hängende Spitze im Zentrum?

Selbst die Weltmeisterschaft in diesem Jahr geriet in Gefahr, als er sich im Sommer 2017 erneut schwer verletzte: Kreuzbandteilriss. Rückkehr erst im vergangenen Februar. Gerade noch rechtzeitig. Denn jetzt sieht es so aus, als wäre er endlich dabei beim Fußball-Großereignis in Russland (14. Juni bis 15. Juli). Und es sieht so aus, als könnte Reus diesmal einer der entscheidenden Spieler sein. Der x-Faktor, der das Spiel des Weltmeisters auf eine höhere Stufe hieven kann. Mit dem in Kreisen des Deutschen Fußball-Bundes ebenfalls hoch angesehenen Julian Draxler streitet er sich um den Platz auf der linken offensiven Seite. Aber auch eine anderweitige Verwendung von Reus als hängende Spitze im Zentrum ist denkbar.

Als „wahnsinnig geschickt, intelligent und für den Gegner überraschend“ adelt Bundestrainer Joachim Löw das Spiel des Mannes, auf den er bislang so selten Zugriff hatte. Gleich der Beginn der Beziehung zwischen Reus und der Nationalmannschaft begann schon unheilvoll. Im Mai 2010 wurde Reus erstmals in die Auswahl eingeladen. Verletzt musste er absagen. Wieder. Und wieder. Debüt? Im Oktober 2011. Gerade mal 30 Länderspiele seitdem.

Löw: Reus ist eine Waffe

Reus sei „eine Waffe“, „eine Rakete“, sagt Löw. Einer mit gefährlicher Intuition. Unberechenbar. Löw liebt das so sehr, weil ihm diese Eigenschaften in der Mannschaft oft fehlten. „Bei ihm wirkt alles leicht. Das Timing stimmt bei seinen Pässen, er ist raffiniert im Torabschluss und deshalb ein Spieler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.“ Ungefragt aber geht das Lob des Bundestrainers auch über in Sorge, ob es Reus dieses Mal bei bester Gesundheit ins Flugzeug schafft. Am Freitagabend zum Beispiel steht ja noch ein Spiel an: Deutschland gegen Saudi-Arabien in Leverkusen.

Es ist der letzte Praxistest vor der Abreise nach Moskau am Dienstag. Die Erinnerung spukt auch in Reus’ Kopf herum. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich nicht daran denke. Aber es ist auch nicht so, dass ich mir jeden Tag Sorgen mache oder mit Angst in das Spiel gehe.“ Was tun als Bundestrainer? Den Mann einsetzen? Schonen? Ganzkörpereingipsen bis zum Abflug?

Reus wirkt gereift

Letzteres würde Reus doch für etwas übertrieben halten. Er wirkt entspannt, gereift, gewachsen an den Dingen. Natürlich habe er sich verändert, sagt er. „Ich hatte besonders nach der letzten Verletzung viel Zeit, um nachzudenken über mein Leben.“ Ergebnis: „Ich bin nicht ernsthafter geworden, sondern eher noch lockerer. Ich habe festgestellt, dass es viele Dinge gibt, die weit wichtiger sind als Fußball.“ Aber im Fußball gibt es nichts Wichtigeres, Größeres als eine WM. Das weiß auch er.

Kroos warnt

Mario Götze, der Siegtorschütze von 2014, schickte nach dem Finale noch einen Gruß an seinen Kumpel. Er hielt ein Trikot mit Reus’ Namen in die Fernsehkameras. So war Reus dabei, obwohl er nicht dabei war. Live gesehen hat er die Botschaft nicht, er war schon ins Bett gegangen. Den Jubel anzusehen hätte vermutlich an Masochismus gegrenzt. „Wenn 2014 Schicksal war, dann war es eben so. Aber deswegen kann ich nicht darauf hoffen, dass ich alles zurückbekomme. Alles im Leben muss man sich hart erarbeiten. “

Vertrauen in den Körper

Das hat er vor. Wichtig ist ihm das Vertrauen in den Körper. Das sei da. Der Rest? Intuition. „Ich versuche immer für besondere Momente zu sorgen. Das klappt mal besser und mal schlechter. Aber wichtig ist zu wissen, dass ich es im Fuß habe.“ Das Besondere. Im richtigen Moment. Wie Zidane vielleicht.