Eppan. Sechs Innenverteidiger im vorläufigen deutschen WM-Kader sind Ausdruck von moderner Flexibilität

    Antonio Rüdiger brach sich fast die Beine, als er versuchte, ein Tor zu schießen. Beim Training lief der Verteidiger zum Schuss an, holte aus und stolperte über einen daneben liegenden anderen Ball, dass er bäuchlings auf dem Rasen landete. Die Reporter hielten den Atem an. Nicht schon wieder Rüdiger. Der hatte sich doch beim ersten Training der EM 2016 das Kreuzband gerissen. Und das wäre schon eine ausgewachsene Gemeinheit, wäre der 25-Jährige jetzt kurz vor dem WM-Turnier erneut ausgefallen.

    Den Atem hielten auch Ilkay Gündogan, Leroy Sané und Julian Draxler an. Beziehungsweise blieb er ihnen weg. Auch sie lagen nach dem verunglückten Schuss bäuchlings auf dem Rasen – vor Lachen. Typisch Verteidiger-Holzfuß, mögen die drei Techniker gedacht haben. Rüdiger lachte mit.

    In der Vergangenheit wurde der Abwehrspieler ja oft genug belächelt. Früher war er ein reiner Arbeiter, gehörte zum Fußball-Proletariat, während die Künstler, die Boheme des Fußballs, weiter vorn anzufinden waren. Mit Begriffen wie „Manndecker“ oder „Vorstopper“ hielt die Fachsprache sie klein. „Klopper“ oder „Rumpelfuß“ waren die inoffiziellen Bezeichnungen. Sie spielten nicht, sie grätschten. Und wenn sie verehrt wurden wie Jürgen Kohler oder Guido Buchwald, dann für ihre Fähigkeit, das schöne Spiel des Gegners (Maradona ist das Stichwort) zu zerstören. Kohler, Buchwald und all die anderen Vertreter des Destruktiven waren Arbeiterhelden.

    Doch das hat sich geändert. Für Verteidiger wie Rüdiger werden heute irre Summen bezahlt. Der in Berlin geborene Sohn einer sierra-leonischen Mutter wechselte vor einem Jahr für 38 Millionen Euro vom AS Rom zum FC Chelsea. Im gleichen Sommer kaufte Gladbach Matthias Ginter aus Dortmund für 17 Millionen Euro. Und in München investierten sie 20 Millionen Euro in Niklas Süle aus Hoffenheim, der eigentlich ein Schnäppchen war.

    Der Abwehrspieler an sich hat eine Aufwertung erfahren. Und das schlägt sich nun auch bei Bundestrainer Jo­achim Löw nieder. In seinem vorläufigen WM-Aufgebot hat der 58-Jährige keine Position so üppig besetzt wie die des Innenverteidigers. Sechs stehen im 27-Mann-Repertoire: Neben Rüdiger, Ginter und Süle noch der Leverkusener Jonathan Tah sowie die beiden etablierten Stammkräfte Mats Hummels und Jérôme Boateng. Das klingt nach Fußball der Vergangenheit. Als plane Löw die Rückkehr des „Ochsen­spießes“. So wurde die Viererkette aus Benedikt Höwedes, Per Mertesacker, Hummels und Boateng bei der WM 2014 getauft, alle etwa 1,90 Meter groß oder größer.

    Aber die Vielzahl an Verteidigern in Löws Kader ist eher ein Ausdruck der Moderne. Abwehrspieler wie Rüdiger bieten dem Bundestrainer die Möglichkeit der Flexibilität, weil sie technisch versiert und taktisch vielseitig geschult sind. Rüdiger, Süle und Ginter haben nachgewiesen, neben der Vierer- auch die Dreier-Abwehrkette zu beherrschen. Süle in Hoffenheim, Ginter vor allem beim Confed-Cup-Sieg 2017 und Rüdiger in Rom sowie bei Chelsea.

    „Wir haben jetzt ein paar gute Alternativen. Sie sind alle stark“, sagt Hummels über die Verteidiger-Armada. Beruhigend für Löw ist das, weil Hummels und Boateng gerade ein wenig ramponiert daherkommen: der eine mental, der andere körperlich. Er sei nach dem verlorenen Pokalfinale in ein „kleines Loch gefallen“, so Hummels, „aber jetzt fühlt es sich langsam wieder an, wie ich das von mir erwarte“.

    Bei Boateng ist das noch nicht der Fall. Der 29-Jährige kann nach seiner Muskelverletzung immer noch nicht mit der Mannschaft trainieren. „Wir sind aber nicht besorgt. ist bei ihm im Soll“, berichtete Torwart-Coach Andreas Köpke aus dem Trainerteam. Hummels hätte keine Bedenken, mit einem anderen Nebenmann beim ersten WM-Spiel gegen Mexiko (17. Juni) aufzulaufen, sollte Boateng Zeit brauchen: „Selbst wenn uns drei Verteidiger ausfallen, haben wir immer noch eine gute Auswahl“, sagte der 29-Jährige. Einer der sechs Innenvertei­diger aber wird noch aussortiert, wenn Löw am 4. Juni das finale Aufgebot festlegt. Tah, der bei der EM 2016 für den verletzten Rüdiger nachnominiert wurde, könnte es treffen.

    Rüdiger eher nicht. In Löws Plan hat er seinen Platz, weil er wie Süle Geschwindigkeit mit Stärke kombiniert. Und nachdem der Ex-Stuttgarter anfänglich durch emotionale Ausbrüche oder Stellungsfehler auffiel, ist er seit dem Wechsel 2015 ins Ausland gereift. Mit Chelsea gewann er kürzlich den FA-Cup und wurde im Finale gegen Manchester United (1:0) zum besten Spieler gewählt. „Die Chelsea-Fans lieben ihn, jeder konnte sehen, warum. Dominant und stark“, schrieb die BBC. Für Ginter spricht, das er der Flexibelste der sechs ist: In Dortmund spielte der 24-Jährige auch Außenverteidiger.