Eppan. Der Bundestrainer appelliert zu Beginn des Trainingscamps ans Kollektiv – und überrascht am Ende seines Plädoyers mit einer Geste.

Es ist davon auszugehen, dassJoachim Löweine gewisse Freude an seiner eigenen Unberechenbarkeit hat. Er lächelt dann immer das schelmische Lächeln eines Mannes, der sich über die Regeln hinwegsetzen kann, weil er in diesem Kosmos die Regeln im Zweifel selber aufgestellt hat.

„Keine Fragen mehr?“ Der Bundestrainer setzt eine Miene gespielter Empörung auf. Die Pressekonferenz mit ihm ist eigentlich schon für beendet erklärt, als Löw die ungewohnte Lust auf eine Zugabe packt. Zwei Fragen folgen, zwei Antworten. Abgang Löw vom Podium, Fotografen hinterher. Klick. Klick-klick-klick. Als er den Ausgang fast schon erreicht hat, reißt er die Arme mit zu Fäusten geballten Händen nach oben. Löw in Siegerpose. Kalkül? Reflex? In jedem Fall ein Dokument, das bleibt.

Finale Phase vor dem Turnier

Drei Wochen sind es noch bis zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland (14. Juni bis 15. Juli), gerade erst hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr Trainingslager in Eppan (Südtirol) bezogen, und Löws Auftritt bildet den Startschuss für diese finale Phase vor dem Turnier. Alles wird dann plötzlich noch wichtiger, als es ohnehin schon zu sein scheint. Es ist gewissermaßen eine Rede zur Lage der Nation. Und die Botschaften, die der 58-Jährige mitgebracht hat, sind ebenso unüberhörbar wie unübersehbar.

Was stört, räumt er geschwind vom Tisch. Manuel Neuer? „Wenn er topfit ist, kann er bei der WM dabei sein. Im Moment hat er überhaupt keine Probleme“, sagt er über den monatelang verletzten Torwart und Kapitän des FC Bayern. Die Posse um Mesut Özil und Ilkay Gündogan, die sich mit dem umstrittenen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan fotografieren ließen? „Das Thema ist für mich erledigt.“

Flammendes Plädoyer

Wichtiger ist ihm, was er jetzt als Trainer beeinflussen kann, was dem Weltmeister helfen kann, seinen Titel erfolgreich zu verteidigen. Das gelang zuletzt Brasilien 1962. Um den historischen Triumph wahr werden zu lassen, hält der Bundestrainer ein flammendes Plädoyer an das Kollektiv. „Jeder muss wissen, dass er nur ein Puzzleteil im System ist“, ruft er seinen Spielern zu: „Allein wird niemand Weltmeister. Egal wie viele Tore er schießt oder Vorlagen er gibt: Er braucht alle anderen. Wenn das jeder weiß und versteht, dann gibt es schon mal ein gutes Verständnis untereinander.“

Bei den vergangenen Turnieren der Ära Löw, die zuletzt vertraglich bis 2022 ausgedehnt wurde, zeichnete die deutsche Mannschaft tatsächlich genau das aus: ein produktives Miteinander, ein geringes Maß an Stinkstiefeligkeit. Ausnahme von der Regel war die EM 2012, als der Bayern-Block und der Dortmund-Block atmosphärisch kollidierten und der Titeltraum im Halbfinale platzte. Löw achtet seither bei der Zusammensetzung seiner Mannschaft umso mehr darauf, Spieler zu haben, „die ihr eigenes Ego zurücknehmen können und das große Ganze im Blick haben“.

Team-Event vorgesehen

Die Tage in Eppan sollen das Gruppengefühl und die gemeinsame Zielorientierung weiter ausprägen. Aus vergangenen Trainingslagern sind gemeinsame Saunaabende und Fahrradtouren überliefert. Am kommenden Sonnabend ist erneut ein Team-Event vorgesehen. „Jeder kämpft ehrgeizig um seine Position, aber immer mit gegenseitigem Respekt. Das kann man nicht verordnen, das muss man vorleben“, sagt Löw.

„Unsere Aufgabe, meine Aufgabe ist, dass alle im Flow sind, dass sich alle zugehörig und wertgeschätzt fühlen – auch die, die nicht immer spielen. Dann ist die Motivation hoch.“ Die Stunde jedes Einzelnen könne jederzeit schlagen. Dranbleiben lohne sich. Beispiel: Christoph Kramer, der 2014 plötzlich im Finale in der Startaufstellung stand, weil er nie nachgelassen und die Kollegen immer unterstützt habe. Soft Skills nennt man das in Unternehmen.

Agenda für die kommenden Wochen steht

Aber bis zum diesjährigen Finale braucht es eben auch noch fußballerische Fertigkeiten. „Wir haben unsere Spielphilosophie betreffend eine gute Basis“, sagt Löw, „aber diese muss immer wieder neu angepasst werden an die Entwicklungen des Fußballs.“ Zum Beispiel daran, sich freizuspielen, wenn der Gegner schon die Abwehrspieler massiv unter Druck setzt. Oder aber bereit zu sein, wenn die Kontrahenten wie Mexiko, Schweden und Südkorea in der Vorrunde versuchen sollten, sich am eigenen Strafraum zu verschanzen. „Wir müssen uns auf defensive Gegner einstellen, sie bespielen und Lösungen finden können“, legt Löw fest.

Die Agenda für die kommenden Wochen steht. „Eine WM“, sagt er, „ist das Allergrößte. Das haben wir 2014 erlebt.“ Neue Lust auf Erfolg, sagt er, müsse er deswegen nicht wecken, die sei schon da. Selbst bei jenen Spielern, die 2014 schon den goldenen Pokal in den Händen halten durften. Wie Löw. Dann geht er. Und jubelt einfach.