Der HSV muss nach 55 Jahren in der Bundesliga erstmals den bitteren Gang in die Zweite Liga gehen. Bis auf die Ausschreitungen von rund 100 Ultras war auch das letzte HSV-Kapitel im Oberhaus dem Rahmen angemessen: ein erstklassiger Abschied

Der kleine Fiete Arp strahlte am Morgen danach. Auch Mladen Petric im Miniformat wippte ungeduldig mit den Füßen von rechts nach links. Und ein dritter HSVer im weißen Trikot mit blau-weiß-schwarzer Raute auf der Brust, aber ohne Namenszug auf dem Rücken, stand am frühen Sonntag mit großen Augen vor dem verwaisten Volksparkstadion. Insgesamt neun Dreikäsehochs waren dorthin gekommen, wo am Vortag um 17.40 Uhr die 55-jährige Bundesligageschichte des HSV beendet worden war. Der Grund: ein Kindergeburtstag. Luis aus Winsen an der Luhe hatte seinen siebten Geburtstag und wollte diesen mit seinen Freunden und vor allem mit einem Ehrengast feiern: mit Dino Hermann, dem trotz aller gegenteiliger Behauptungen quicklebendigen Maskottchen des HSV.

Der Dino der Liga, daran war am Sonntag nicht zu rütteln, ist dagegen endgültig Geschichte. 2:1 hatte der HSV am letzten Spieltag noch einmal gegen Borussia Mönchengladbach gewonnen. Doch der 746. Sieg im 1866. Bundesligaspiel sollte nicht reichen. Am Ende fehlten den Hamburgern zwei Punkte, um den VfL Wolfsburg (4:1 gegen Köln) noch vom erhofften Relegationsplatz zu verdrängen. Nach 55 Spielzeiten in der Bundesliga wird der HSV also erstmals in der Clubgeschichte ab dem ersten Augustwochenende in der Zweiten Liga spielen müssen.

„Es geht mir schlecht. Und ich finde es auch ein bisschen traurig“, sagte Uwe Seeler am Vortag, als passiert war, was noch nie passiert war. Was sich aber bereits seit vielen Jahren angekündigt hatte. „Hamburg ohne Erste Fußballliga kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte der 81-Jährige, der trotz des Unvorstellbaren im Bauch des Volksparkstadions bravourös die Haltung bewahrte. „Aber ich werde auch in der Zweiten Liga hingehen.“

Auf der ewigen Bundesligauhr im Stadion standen 54 Jahre, 261 Tage, 00 Stunden, 36 Minuten und zehn Sekunden, als der einst unabsteigbare HSV abgestiegen war. Es war noch einmal ein letztes Drama mit einigen Höhepunkten und einem schlimmen Tiefpunkt, der den 57.000 Zuschauern präsentiert wurde. Eine kleine Gruppe von 100 „Fans“, die kurz vor dem Schlusspfiff mit Böllern für eine rund 20-minütige Spielunterbrechung gesorgt hatte (siehe Bericht auf Seite 24), hätte den traurigen Abschied aus der Bundesliga fast zum Skandalabschied gemacht. Doch am Ende wurde aus dem „Abstieg ohne Anstand“ („Berliner Morgenpost“) in Wahrheit ein Abstieg mit Anstand. Ein sehr würdevoller Abschied mit Tränen, mit großen Gefühlen und mit allem, was zu diesem riesigen Traditionsclub nun mal dazugehört.

„Es tut richtig weh“, sagte Gotoku Sakai mit tränenerstickter Stimme. Immer wieder musste der Kapitän der Abstiegsmannschaft in der Rede-und-Antwort-Runde nach dem Schlusspfiff pausieren. „Im Moment ist es noch schwer, diese Situation zu akzeptieren“, sagte der schluchzende Japaner, der sich seiner Tränen genauso wenig schämte wie ein Großteil seiner Mannschaftskollegen. Douglas Santos war bereits direkt nach dem Abpfiff wie ein kleines Häuflein Elend auf dem Rasen zusammengesackt und konnte und wollte sich in dem wahrscheinlich schlimmsten Moment seiner Karriere von nichts und niemandem trösten lassen. Auch der kleine Dribbler Tatsuya Ito, der besonders im Saisonendspurt groß aufgespielt hatte, heulte wie ein Schlosshund. Fiete Arp, auf dessen schwarzem T-Shirt der etwas unpassende Schriftzug „Welcome to paradise“ aufgedruckt war, weinte genauso hemmungslos wie Matti Steinmann, der gerade erst im letzten Saisondrittel in dieser Bundesliga angekommen war.

Doch die Zukunft heißt ab sofort: Zweite Liga. „Wir sind erst einmal alle traurig und verbittert ob der Situation“, sagte der sonst stets nüchterne Vorstandschef Frank Wettstein „Alles andere werden wir in den kommenden Tagen sicherlich klären. Wenn man den Spielern nach dem Abpfiff in die Augen geschaut hat, hat man viele gesehen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Das ist jetzt aber der falsche Moment um einzuschätzen, wie man aufgestellt ist.“

Im 1866. Bundesligaspiel holte der HSV den 746. Sieg

Der richtige Moment dürfte sicherlich noch ein paar Tage auf sich warten lassen. Am Sonntag, als sich Luis und seine begeisterten Freunde von Dino Hermann durch das nun schönste Stadion der Zweiten Liga führen ließen, drückte zunächst einmal HSV-Präsident und Aufsichtsratschef Bernd Hoffmann auf die Bremse vor allzu hohen Erwartungen (siehe Bericht Seite 25). „Wir müssen jetzt auch erst einmal ankommen“, sagte Hoffmann. „Wir müssen realisieren, dass wir ein Zweitligist sind.“

Und genau diese Erkenntnis dürfte für viele Hamburger die schlimmste sein. Insbesondere nach der vergangenen Woche, als das Prinzip Hoffnung in der Hansestadt ein vor kurzer Zeit nicht mehr für möglich gehaltenes Comeback gefeiert hatte. „Ich habe wirklich bis zum Schluss daran geglaubt, dass wir noch in die Relegation einziehen können“, sagte Trainer Christian Titz. Gerade einmal zwei Monate ist es her, dass der gebürtige Mannheimer die abgeschlagenen Profis des HSV übernommen hatte und sich ernsthaft anschickte, auf der Zielgeraden „das größte Wunder der Bundesliga-Geschichte“ zu schaffen.

Am Ende blieb es beim Versuch.

„Wenn wir so einen Tag in der Vereinsgeschichte erleben, an dem der Verein absteigt, dann hat das einen sehr negativen Geschmack“, sagte Titz eine knappe Stunde nach dem letzten Abpfiff der Bundesliga. „Gleichzeitig bin ich aber stolz auf die Spieler, was sie in den vergangenen acht Wochen geleistet haben. Sie waren fleißig, sie haben Fußball gespielt und sich dagegengestemmt. Wie sie mit dem Auftreten den Schulterschluss mit den Zuschauern geschafft haben. Da ging es darum, uns würdevoll und vernünftig mit Anstand und Respekt von den Leuten zu verabschieden. Dieses Verhalten macht mich stolz.“

So ein Abstieg ist nun einmal kein Kindergeburtstag. Doch für Luis und seine Freunde stand am Sonntag trotzdem fest: Sie kommen wieder. Bald. Auf Wiedersehen in der Zweiten Liga.