Hamburg. Kurz vor dem Abstiegsfinale hat sich der HSV entschlossen, ligaunabhängig mit dem beliebten Cheftrainer weiterzumachen. Fehlt nur noch das Happy End

Als Christian Titz am Vatertag um kurz vor 14 Uhr gefragt wurde, ob er noch an das Klassenerhaltswunder glaube, ließ der Fußballlehrer keine Zweifel aufkommen. „Ich glaube daran“, antwortete der HSV-Interimstrainer ohne zu zögern. Ein Lächeln – und noch ein überzeugendes: „Ja!“

Nach der Saison sollen letzte Detailfragen geklärt werden

An Titz’ Sichtweise hatte sich auch zwei Stunden später nichts geändert. An seiner Postenbeschreibung dagegen schon. „Vorstand und Aufsichtsrat wollen ligaunabhängig mit Trainer Christian Titz weiterarbeiten“, ließ um kurz nach 16 Uhr Vorstand Frank Wettstein via WhatsApp verbreiten. „Wir haben sehr gute Gespräche mit dem Trainer geführt, es geht nur noch um abschließende Detailfragen, die nach der Saison geklärt werden, um den aktuellen sportlichen Fokus nicht zu stören.“ Lange Rede, kurzer Sinn: Aus dem Interims- wird ein Cheftrainer.

Mit der vorzeitigen Beförderung des vorherigen U-21-Trainers hatte am Donnerstagmittag tatsächlich noch niemand gerechnet – Titz selbst offenbar auch nicht. Als der 47-Jährige nach dem Training, zu dem rund 2000 (!) Fans gekommen waren, noch eine Dreiviertelstunde lang Autogramme geben musste, wusste der Trainer nach Abendblatt-Informationen noch gar nicht, dass er auch sehr bald seine Unterschrift unter seinen neuen Vertrag setzen darf.

Im Hintergrund hatten sich Titz-Berater Marcus Noack, Vorstand Wettstein und Aufsichtsratschef Bernd Hoffmann bereits auf die weitere Zusammenarbeit geeinigt – unabhängig vom Ausgang des Wochenendes. „Wir werden uns unmittelbar nach der Saison zur Finalisierung der letzten Detailfragen zusammensetzen“, sagte Hoffmann, dem man in den vergangenen Wochen nachgesagt hatte, einer Titz-Beförderung eher kritisch gegenüberzustehen. Noch am Mittwoch hatte die „Bild“ berichtet: „Der Trainer braucht wohl ein Rettungswunder, um einen neuen Profivertrag beim HSV zu bekommen. Bei Abstieg müsste Titz wohl gehen.“

Es kam anders. „Ich hatte mit dem Vorstand sehr gute Gespräche. Wir haben uns darauf verständigt, dass die letzten Details nach Saisonende geklärt werden“, ließ sich Titz am Nachmittag zitieren. Zwei Stunden zuvor hatte er bereits einen Einblick in sein Seelenleben gegeben: „Für mich ist es immer noch außergewöhnlich, dass ich Trainer in der Bundesliga sein darf“, sagte der Familienvater, der durch seine authentische Art innerhalb kürzester Zeit die ganze Stadt eingefangen hatte.

Sehr eindrucksvoll konnte man die neue Stimmungslage rund um den HSV beim Vormittagstraining beobachten. Genau dort, wo auf den Tag vor zwei Monaten HSV-„Fans“ Grabsteine für die wahrscheinlichen Absteiger aufgestellt und Drohplakate geschrieben hatten, wurde nun Trainer Titz von den Massen gefeiert. „Ihr schafft das noch!“, rief ihm ein Anhänger entgegen, als der Coach um kurz vor 11 Uhr unter großem Applaus den Trainingsplatz betreten hatte. Erneut hingen auch Plakate am Zaun, diesmal aber mit anderem Inhalt: „Vater unser im Fußballhimmel“, stand auf einem. „Dein Ball komme, Dein Spiel geschehe. Wie in Wolfsburg, als auch in Hamburg. Vergib uns unsere schlechte Saisonleistung, wie auch wir vergeben die ein oder andere Schiedsrichter-Entscheidung. Führe uns nicht in die Zweite Liga, sondern erlöse uns vor dem Abstiegsfluch. Amen.“

Der Glaube ist zurück. „Gefühlt steht der HSV auf Rang zehn“, sagte Eurosport-Experte Matthias Sammer – und lobhudelte: „Dieses Gefühl hat sich der HSV mit Christian Titz hart erarbeitet. Das Team hat Willen und Charakter gezeigt.“ Doch damit nicht genug. „Wenn der HSV das über die ganze Saison mit Christian Titz gezeigt hätte, wäre der HSV niemals in der aktuellen Situation“, sagte Sammer. Vor allem die Herangehensweise des Trainers imponiere ihm: „Titz verwaltet nicht, er lässt agieren. Ballbesitz, Offensive und Mut. Er lässt nicht konservativ defensiv agieren. Er will nach vorne spielen. Diese Art und Weise gefällt mir.“

Und sie gefällt auch den Verantwortlichen vom HSV. So hatten sich besonders Alleinvorstand Wettstein und Sportdirektor Bernhard Peters bereits sehr früh sehr klar zu Titz positioniert. Hoffmann musste dagegen erst überzeugt werden – und wurde überzeugt.

Hoffmann musste zunächst noch überzeugt werden

Tatsächlich ist es wohl selten einem Bundesligatrainer in so kurzer Zeit gelungen, eine komplett andere Idee von Fußball mit der eigenen Mannschaft umzusetzen. Während die glücklosen Vorgänger Bernd Hollerbach und Markus Gisdol vor allem die Defensive stärken wollten, setzte Titz kompromisslos seine Idee vom spielstarken Fußball um. Er sortierte die einstigen Stammspieler Mergim Mavraj und Walace, die zur U21 verbannt wurden, sowie André Hahn und Dennis Diekmeier aus, und beförderte den einst gescheiterten Matti Steinmann zum Dreh- und Angelpunkt seines Teams. Mit diesen mutigen Entscheidungen gelangen dem gebürtigen Mannheimer zehn Punkte aus sieben Spielen – und damit die vor Wochen nicht mehr für möglich gehaltene Restchance am letzten Spieltag.

Noch wichtiger: Sollte der HSV trotzdem am Sonnabend absteigen, dürfte der befürchtete Bruch mit den Anhängern ausbleiben. „Trainer, wenn ihr wirklich absteigt, komme ich auch in der Zweiten Liga“, sagte ein Fan nach dem Training am Donnerstag – und teilte Titz auch direkt eine Beschwerde mit: „Obwohl ich Geburtstag hatte“, sagte der Anhänger, „habe ich keine Karte mehr für Sonnabend bekommen.“

Das Endspiel ist ausverkauft.