Hamburg. HSV-Trainer Christian Titz spricht vor dem Wolfsburg-Spiel über seine ungewöhnliche Karriere – und er verrät, wie ein Zeckenbiss ihn quälte

An diesem Wochenende kommt die Familie von Christian Titz aus Neckarhausen zusammen. Tochter Mia (8) feiert in Hamburg Kommunion. Während der HSV-Trainer beim VfL Wolfsburg, der am Freitagabend Sportdirektor Olaf Rebbe freistellte, an diesem Sonnabend (15.30 Uhr/Sky und im Abendblatt-Liveticker) weiter gegen den Abstieg in die Zweite Liga kämpft, fiebert die Familie am Fernseher mit. Am Sonntag wollen dann alle gemeinsam feiern. Einen Sieg in Wolfsburg, dann die Kommunion. Vor dem richtungweisenden Spiel sprach der 47-Jährige mit dem Abendblatt über seine Fußball-Familie und seine ungewöhnliche Trainerlaufbahn – und verliert dabei kein Wort über Wolfsburg.

Herr Titz, sind Sie ein Spätstarter?

Christian Titz: Wenn Sie mein Bundesligadebüt meinen, dann kann man das so sagen. Als Trainer habe ich aber bereits im Alter von 15 Jahren zum ersten Mal eine Mannschaft übernommen.

Warum hat es bis zu ihrem 47. Lebensjahr gedauert, ehe Sie erstmals als Trainer im Profifußball aufgetaucht sind?

Es gibt in der Ersten und Zweiten Liga nur 36 Cheftrainerposten. Die Wahrscheinlichkeit ist also gering, dass man einen dieser Jobs jemals bekommt. Wie auch als Spieler brauchst du auch mal das Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein und dann auch noch jemanden zu haben, der in dir etwas sieht ...

Sie meinen Bernhard Peters.

Ja. Und der sich vorstellen kann, dass deine Arbeit in der Bundesliga funktioniert.

Sie glauben, dass in Deutschland noch viele unbekannte Trainer arbeiten, die in der Bundesliga trainieren können?

Ich glaube, in den Nachwuchsleistungszentren sind Trainer tätig, die das Potenzial mitbringen und nur mal eine Chance benötigen. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese außergewöhnliche Möglichkeit bekommen habe.

Können Sie sich noch an Ihren ersten Trainer erinnern?

Das kann ich. Es war mein Vater Johannes. Wir hatten damals bei Viktoria Neckarhausen keine F-Jugend. Also musste ich mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Stephen direkt in der E-Jugend einsteigen. Und mein Vater war unser Trainer.

Was haben Sie heute als Trainer von ihm in Erinnerung?

Es ging damals nicht nur um Trainingsmethoden. Mein Vater hat mir im Laufe der Jahre vor allem einen Grundsatz mitgegeben: Wenn du etwas erreichen willst, musst du bereit sein, mehr zu tun als andere. Sein zweiter Grundsatz lautete: Verhalte dich anderen Menschen gegenüber mit Anstand und Respekt. Behandele sie immer so, wie du auch behandelt werden willst. In dem Dorf, in dem wir aufgewachsen sind, konntest du dir nicht erlauben, die Menschen nicht zu grüßen. Da gab es sofort einen Rüffel von Oma oder Opa.

Stimmt es, dass Ihr Bruder schon damals HSV-Fan war?

Das ist richtig. Wir haben als Kinder viel Zeit draußen verbracht. Den Menschen ging es damals nicht so gut wie heute. Wir hatten, wie viele andere auch, eine kleine Wohnung. Ich habe mit meinem Bruder ein Zimmer geteilt mit einem Etagenbett. Aber wir waren trotzdem sehr zufrieden und uns hat das auch nicht gestört. Im Nachhinein finde ich es sogar gut. Im Fernsehen gab es nur vier Programme. Also haben wir viel Fußball gespielt. Zu der Zeit war der HSV neben Bayern der stärkste Verein. Mein Bruder hat dann immer als HSV gespielt, ich war Waldhof Mannheim oder der VfB Stuttgart. Das waren die großen Clubs in unserer Region. Wenn dann die Sportschau lief, haben wir uns immer gegenseitig geärgert.

Wer war der talentiertere Fußballer?

Wenn ich jetzt die Wahrheit sage, regt er sich wieder auf (lacht). Mein Bruder ist dann später Torhüter geworden.

Sie selbst galten als großes Talent. Warum hat es „nur“ zur Regionalliga gereicht?

Ich bin dankbar, dass ich überhaupt noch einmal so hoch spielen durfte.

Wie meinen Sie das?

Ich konnte lange Zeit gar nicht oder nur eingeschränkt Fußball spielen. Mit 16 Jahren litt ich massiv an den Folgen eines Zeckenbisses. Ich konnte meinen Körper nicht mehr intensiv belasten. Meine Karriere war eigentlich vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ich habe es zwar noch einige Jahre versucht, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr so, wie ich gerne wollte. So habe ich schon als Jugendlicher angefangen, mich mit dem Trainerjob zu beschäftigen. Da habe ich schon gemerkt, dass mir das Spaß macht.

Trotzdem haben Sie später noch in der Regionalliga gespielt.

Ich habe über den zweiten Bildungsweg mein Fachabitur nachgemacht und BWL studiert. Über Freunde habe ich dann während des Studiums wieder mit dem Fußball angefangen. Ich musste zwar immer Schmerzmittel nehmen, aber ich wollte es unbedingt noch einmal wissen. Dann kamen schnell wieder Angebote höherklassiger Clubs. Mit 30 musste ich dann aber endgültig aufhören. Es ging einfach nicht mehr.

Sie hatten damals schon Ihre erste Fußballschule gegründet. Ist Ihnen der Abschied als Aktiver so leichter gefallen?

Mir ist die Anfangszeit sehr schwer gefallen. Zumal ich auch erst spät die Gewissheit bekommen habe, dass ein Zeckenbiss Auslöser meiner gesundheitlichen Probleme war. Erst dann hatten die Testverfahren sich entwickelt. Die Einsicht, nur noch Trainer sein zu können, hat mich lange beschäftigt, da Fußballspielen mit das Schönste für mich war .. .

Wie wäre der Trainer Titz mit dem Spieler Titz umgegangen?

Da hätte es durchaus Reibungspunkte gegeben (lacht). Ich bin ein Mensch, der nicht verlieren mag. Wenn das früher passierte, wurde ich jähzornig. Als Spieler kannst du Jähzorn ausleben. Als Trainer muss ich ihn kontrollieren und gezielt einsetzen. Mein Jähzorn als Spieler hätte mich als Trainer durchaus ärgern können, gleichzeitig war ich schon als Spieler unglaublich ehrgeizig. Und wenn ich als Trainer eines von meinen Spielern sehen möchte, dann ist es der unbedingte Wille.

Welcher Trainer hat Sie in ihrer Karriere am meisten inspiriert?

Johan Cruyff. Mich hat damals schon begeistert, wie seine Mannschaften in Barcelona mit dem Ball gespielt haben. Er war seiner Zeit weit voraus. Ich glaube, vieles, was wir heute etwa unter Pep Guardiola, der ja Spieler unter Cruyff war, sehen, hatte bei ihm seine Entstehung. Cruyff hat viele neue Ideen kreiert, neue Lösungen, neue Ansätze.

Können Sie das konkretisieren?

Ich war beispielsweise sehr angetan, wie er Ronald Koeman eingesetzt hat. Er war nicht der Antrittsschnellste, aber handlungsschnell und spielintelligent. Er hat das Barca-Spiel von hinten heraus geprägt. Auch ich hatte durch meine Krankheit Schnelligkeit verloren. Also begann ich, Szenen aus der damaligen Zeit im TV zu studieren und die Dinge selbst auszuprobieren. Mein Rehatrainer ist unsere Trainingsszenen mit mir durchgegangen und wir haben diese dann analysiert.

Man sagt Ihnen nach, dass Sie als Trainer immer neue Dinge ausprobiert hätten.

Mit Kindern zu trainieren bietet dir viele Chancen, um zu experimentieren. Sie zeigen dir selbst neue Wege auf. Das beste Beispiel kann ich Ihnen von der Mannschaft meines Sohns erzählen.

Bitte.

Mein Sohn Jan-Luca (13) konnte aufgrund einer gesundheitlichen Problematik nicht mehr sprinten. Also habe ich ihn ins Tor gestellt, als ich sein Trainer war. Weil er im Spielaufbau allerdings gut war und die Gegner übermächtig schienen, sodass wir ihnen den Ball so wenig wie möglich geben wollten, entstand die Idee, ihn 30, 40 Meter vor dem Tor zu positionieren, damit wir einen Feldspieler mehr hatten. So haben wir begonnen, die Idee mit dem hoch stehenden Torhüter und den breit stehenden Innenverteidigern zu entwickeln. Solche Dinge lassen sich im Jugendfußball natürlich viel leichter ausprobieren und verfeinern.

Haben Sie als Bundesligatrainer für solche Experimente noch Zeit?

Die Zeitfenster werden enger, aber ich werde sie mir nehmen. 2016 war ich zum Beispiel zu Besuch beim FC Midtjylland in Dänemark. Ein kleiner Verein, der in der A-Jugend Youth League für Furore gesorgt und mit der Profimannschaft die Meisterschaft errungen hatte. Ich wollte wissen, was die dort machen. Kurze Zeit später saß ich mit unserem U-17-Trainer Pit Reimers und den dänischen Trainern zusammen und habe mich von ihren Gedankengängen inspirieren lassen. Der Fußball ist heutzutage ein ständiges Weiterentwickeln. Dafür bedarf es immer neuer Beobachtungen und permanenten Austauschs. Es ist wichtig, Dinge nicht nur zu kopieren. Du musst deine eigene Authentizität entwickeln, um deinen Weg glaubhaft zu vermitteln.

Müssen Sie in eine Rolle schlüpfen, wenn Sie heute die Bühne Bundesliga betreten?

Das würde bedeuten, dass ich mein Handeln nach anderen ausrichte. Dann nehme ich mir Ressourcen weg. Ich kann nicht ändern, was andere über mich denken oder schreiben. Aber ich kann zumindest der sein, der ich bin.

Erkennen Sie Show, wenn Sie etwa Jürgen Klopp an der Seitenlinie sehen?

Jürgen Klopp ist ein sehr emotionaler und authentischer Typ, der sich durch die Atmosphäre pushen lässt. Er überträgt diese Stimmung wiederum auf seine Spieler. Seine Mannschaften haben immer etwas enorm Wuchtiges.

Das Magazin „11 Freunde“ hat ihn gerade als aufregendsten Trainer der Fußballwelt bezeichnet. Ist er das für Sie auch?

Er ist einer der interessantesten. Er lebt bei Liverpool einen Stil, der nicht vergleichbar ist, beispielsweise mit Bayern München, Manchester City oder Real Madrid. Er führt dort seinen Weg des Umschaltspiels, des Pressings, des emotionalen Vorlebens zum Erfolg. Der Fußball ist so interessant, weil es so unterschiedliche Stilmittel gibt, die zum Erfolg führen können.

Kommt Pep Guardiolas Stil Ihnen näher?

Ich war schon ein wenig traurig, als Pep Guardiola und Thomas Tuchel die Bundesliga verlassen haben. Die beiden haben andere Elemente in den Fußball gebracht. Ich finde es wichtig, dass wir verschiedene Trainer mit verschiedenen Facetten in der Bundesliga haben.

Können Sie Sich vorstellen, in der nächsten Saison wieder im Nachwuchs zu arbeiten?

Im Moment stellt sich für mich nur die Frage, wie wir noch den Klassenerhalt schaffen können. Eines kann ich Ihnen sagen: Wenn man einmal mit den besten Spielern zusammenarbeiten durfte, und diese spielen eben in der Bundesliga, dann will man dort auch bleiben.