Hamburg. Jan-Philipp Kalla verrät, welche Gefühle er bei seinem letzten Vertrag als Profi des FC St. Pauli empfindet, was ihm der Verein bedeutet und worauf es jetzt ankommt

Im kommenden Sommer geht Jan-Philipp Kalla in seine letzten beiden Jahre als Fußballprofi des FC St. Pauli. Seit 2003 gehört der 31-Jährige jetzt dem Club vom Millerntor an, am 12. Mai 2006 gab er sein Debüt in der Profimannschaft. Eine solche Vereinstreue ist im heutigen Profifußball eine Rarität, auch deshalb wird er von den Fans als „Fußball-Gott“ gefeiert. Dennoch habe er lange nachdenken müssen, ehe er kürzlich seinen letzten Vertrag als Fußball-Profi unterzeichnete. Dieser Kontrakt sieht vor, dass ihm auch die Gelegenheit gegeben wird, sich auf eine künftige Trainertätigkeit im Club vorzubereiten. Als ersten Schritt hat sich Kalla für den Lehrgang für den B-Schein angemeldet.

Herr Kalla, die Verhandlungen über Ihren neuen Vertrag haben sich lange hingezogen. Woran hat es besonders gehakt?

Jan-Philipp Kalla: Vom ersten Gespräch bis zur Unterschrift waren es dreieinhalb Monate. Es waren mehrere Dinge, die man durchspricht. Gefreut hat mich, dass der Verein signalisiert hat, dass es weitergeht. Gleichzeitig haben wir über die weitere Zukunft gesprochen. Dazu habe ich mich auch mit unserem Leiter des Nachwuchszen­trums, Roger Stilz, unterhalten.

Sportchef Uwe Stöver sagte kürzlich, es sei bei Ihnen auch ein längerer Prozess gewesen, sich darüber klar zu werden, dass Sie jetzt auch an die Zeit nach der aktiven Karriere denken müssen.

Ja, das stimmt. Klar weiß man, dass eine Karriere als Profifußballer nur über einen bestimmten Zeitraum möglich ist. Aber ich fühle mich eben gut und fit, und deshalb will ich auch mit meinen 31 Jahren auf jeden Fall noch weiterspielen. Es ist bei mir sehr lange im Kopf herumgeschwirrt, dass dies nun der Vertrag sein wird, nach dem es keinen weiteren als Fußballprofi geben wird. Das war eine schwierige und harte Einsicht. Es hat bei mir einige Zeit gedauert, das zu verarbeiten.

Haben Sie das für sich allein verarbeitet?

Ich habe natürlich auch mit der Familie und Freunden darüber gesprochen, ob es nun so ist, oder doch nicht. Es war auf jeden Fall kein schöner und kein leichter Moment.

Hatten Sie wegen dieser Angelegenheit auch schlaflose Nächte?

Nein, die hatte ich nicht. Es hätte sicher auch die Option gegeben, zu einem anderen Verein zu gehen, bei dem ich vielleicht höhere Chancen auf regelmäßige Einsätze gehabt hätte. Am Ende habe ich selbst die Entscheidung getroffen, weiter Spieler zu sein und mich parallel auf die Zeit danach vorzubereiten.

Ihr Ziel war es ja schon seit längerer Zeit, nach der Karriere für den FC St. Pauli tätig zu sein. Haben Sie sich auch deshalb jetzt gegen einen Vereinswechsel entschieden, weil Ihnen das Risiko zu hoch erschien, in ein paar Jahren bei den Verantwortlichen des FC St. Pauli in Vergessenheit geraten zu sein?

Es ist einfach so, dass ich mich beim FC St. Pauli und in Hamburg sehr wohl fühle. Meine Familie und meine Freunde sind hier. Man darf nicht unterschätzen, dass es auch nicht so einfach ist, wenn man plötzlich irgendwo ganz allein ist. Andere Spieler, die alle zwei Jahre den Verein wechseln, sind das vielleicht gewohnt. Für mich wäre das Neuland gewesen. Ich habe alle Pros und Contras abgewogen und bin dann zu meiner Entscheidung gekommen. Es ist sicher ein Vorteil, dass ich in zwei Jahren schon einen Schritt weiter sein werde, als wenn ich mich erst dann um meinen zukünftigen Beruf kümmern könnte.

Wie groß war dabei Ihr Ehrgeiz, in der heutigen Zeit einer der ganz wenigen Spieler zu sein, die als Profi mehr als ein Jahrzehnt nur für einen Verein gespielt haben?

Klar hat dieser Aspekt eine Rolle gespielt, auch wenn es nebensächlich ist. Ich bin nun mal Hamburger und fühle mich hier im Verein sehr wohl.

Wenn Sie es kurz zusammenfassen: Was bedeutet Ihnen der FC St. Pauli?

Der Verein ist für mich im Laufe der Jahre so wie eine Familie geworden. Man kennt praktisch alle Menschen, die im Club tätig sind, ob es der Platzwart vom Nachwuchsleistungszentrum oder die Angestellten auf der Geschäftsstelle sind. Es ist einfach eine schöne Atmosphäre. Zudem gibt es mir viel, den Kontakt zu all den Leuten im Verein zu halten. Das erleichtert vieles. Dazu mag ich diesen einzigartigen Stadtteil und die Menschen, die hier leben.

In den 15 Jahren, die Sie jetzt beim FC St. Pauli sind, hat sich der Verein erheblich verändert. Ist der FC St. Pauli heute überhaupt noch der „etwas andere Verein“?

Es ist auf jeden Fall noch ein anderer Verein. Das hat man ja gerade zuletzt wieder bei der Debatte über die 50+1-Regel erlebt, wie sich die Clubführung dagegen wehrt, dass es im deutschen Profifußball zur großen Übernahme der Vereine von Investoren kommt. Auch wenn wir unsere Stadionordnung betrachten, ist das im deutschen Fußball etwas, bei dem wir mit gutem Beispiel vorangehen. Der FC St. Pauli ist seinen Werten treu geblieben, auch wenn er überall gewachsen ist und sich sowohl das Stadion als auch die Trainingsanlagen in meiner Zeit erheblich verändert hat. In unserer Mannschaft bin ich zum Beispiel der einzige Spieler, der noch im ganz alten und im komplett neuen Millerntor-Stadion gespielt hat.

Was war das für Sie wichtigste Ereignis, das Sie beim FC St. Pauli erlebt haben?

Auch wenn es auf der Hand liegt, war das ganz klar der Bundesligaaufstieg 2010. Ich hatte das Glück, immerhin fünf Bundesligaspiele bestreiten zu dürfen. Davon träumt jedes Kind. Auch wenn es nur fünf Spiele geworden sind, sind es eben fünf mehr als 99,9 Prozent der aktiven Fußballer aufweisen.

Wie hat sich in den Jahren das Leben eines Fußballprofis verändert?

Es hat sich sehr viel getan. Das Spiel wird auch in der Zweiten Liga immer schneller. Die Spieler müssen heute physisch und mental stärker sein. Krafttraining, Ernährungsberatung, Athletiktrainer, ein zweiter und dritter Co-Trainer – all das ist in den Jahren dazugekommen. Das Ganze ist aber nicht von heute auf morgen gekommen, sondern war ein stetiger Prozess.

Wie halten Sie es mit den sozialen Medien?

Klar habe ich heute auch Facebook und Instagram. Das konnte man sich vor zehn Jahren kaum ausmalen. Da gab es halt Interviews in Zeitungen und im Radio, das war es dann schon. Heute kann man sich täglich über die sozialen Medien zu Wort melden, artikulieren und präsentieren, wenn man das denn will.

Fühlen Sie sich heute auch stärker in Ihrer Freizeit beobachtet?

Eher nicht. Ich denke, dass wir uns hier bei St. Pauli aber auch in einem sehr humanen Umfeld befinden. Da interessiert es die Leute kaum, ob ich in der Schanze spazieren gehe und einen Kaffee trinke. Ich habe das Gefühl, es wird akzeptiert, dass auch wir ein Privatleben haben.

Zum Sportlichen: Warum ist Ihr Team jetzt schon wieder einmal, zum dritten Mal in den vergangenen vier Jahren, in akute Abstiegsgefahr geraten, obwohl das Potenzial doch viel größer erscheint?

Zum einen ist die Liga diesmal sehr, sehr ausgeglichen. Vor einem Jahr wären wir mit den 37 Punkten, die wir jetzt haben, praktisch schon gerettet gewesen. Wir haben uns aber in diese Situation wieder einmal selbst gebracht, weil wir in einigen Spielen nicht zielstrebig und konsequent genug waren.

2015 und vor einem Jahr haben Sie den Kampf um den Klassenerhalt dank einer Aufholjagd erfolgreich bewältigt. Hilft jetzt diese Erfahrung im Saisonendspurt?

Es gibt einem ein gutes Gefühl, wenn man es schon mehrfach geschafft hat. Die meisten Spieler von uns können Abstiegskampf.

Wie geht Abstiegskampf genau?

Es geht jetzt nicht mehr um Schönheitspreise. Auch wenn es blöd klingt, müssen wir uns auf die St.-Pauli-Tugenden besinnen: kämpfen, keinen Ball verloren geben und sich den Hintern aufreißen, bis man körperlich am Ende ist.

Ist der St. Pauli zu sehr eine Wohlfühloase?

Sicher wird nach schlechten Spielen kaum einmal gepfiffen. Trotzdem ist es für uns Spieler kein schönes Gefühl, nach Niederlagen an den Zaun zu den Fans zu gehen. Es mag bei uns etwas angenehmer sein, weil wir uns mit den Fans im Dialog befinden und nicht von hinten bis vorne bepöbelt werden. Unsere Fans haben verstanden, dass man schwierige Situationen gemeinsam bewältigen kann. Zum Glück werden hier Spieler nicht bedroht oder Gräber ausgeschaufelt, wie das andernorts vorgekommen ist. Aber natürlich stehen wir jetzt in der Verantwortung, durch unser Auftreten die Fans wieder mit ins Boot zu nehmen, zu motivieren und zu aktivieren.