Turin. Real Madrids Cristiano Ronaldo gelingt beim 3:0 in Turin der schönste Treffer seiner Karriere – sogar die Juventus-Fans applaudierten

166 Sekunden waren gespielt, schon setzte Cristiano Ronaldo wieder eine neue Bestmarke. Eine Hereingabe von Isco erahnte er, bevor der Ball überhaupt dessen Fuß verlassen hatte, und verwertete sie gegen die Laufrichtung mit dem Außenspann ins lange Eck. Ein enorm schwieriges Tor, aber der einstige Dribbelkönig hat sich auf seine älteren Tage nicht umsonst zum besten Strafraumstürmer der Welt umgeschult. In Turin traf er im zehnten Champions-League-Spiel nacheinander. Das hatte vorher noch keiner geschafft.

Allerdings sprach später kaum einer darüber, denn mit Ronaldo (33) verhält es sich ja so, dass es nie genug ist, dass er Rekorde und Grenzen immer weiter verschiebt, sogar in ein und derselben Partie. Wie in Turin nach 64 Minuten. Da schoss er das Tor, von dem er immer geträumt hatte. „Das Tor“, wie die Schlagzeile der „Marca“ die Elogen aller Welt treffend verknappte. Dieser Treffer zum 2:0 für Madrid, er war mehr als sein 649. Treffer als Profi, davon 445 für Real, und mehr als sein 119. Tor in der Champions League, davon 22 im Viertelfinale. Er war sein Meisterwerk, seine „Mona Lisa“, ein Treffer wie ein Gemälde, gezeichnet von einem Genie wie Leonardo da Vinci. Resümee und Por­trät einer superlativen Karriere.

Nach einer missglückten Aktion von Juventus-Verteidiger Giorgio Chiellini und einer Parade von Torwart Gianluigi Buffon gegen einen Schuss von Lucas Vázquez flog der Ball geflankt von Dani Carvajal wieder in den Strafraum. Weit in den Rücken Ronaldos. Zwei imposante Schritte Anlauf, dann schwang er sich nach oben wie ein Turner am Reck und lag waagrecht in der Luft wie ein Hochspringer beim Flop. 2,23 Meter über dem Boden, so wurde später errechnet, traf er den Ball. „Air Cristiano“: Wie im Basketball einst Michael Jordan definierte er neu, was Athletik, Talent und Kunst vollbringen können. Denn der Ball, er flog nie irgendwo anders hin als ins Tor.

Als er dort einschlug, schien es kurz still, Sekundenbruchteile bloß, aber in solchen Epochenmomenten können die sich ja manchmal ewig anfühlen. Alle mussten sich erst mal sammeln, erst dann begann sich Ronaldo zu freuen, der spanische Fernsehreporter heiser zu schreien („Mutter meines Lebens, was hast du da getan?“), Trainer Zinédine Zidane ungläubig über Stirn und Glatze zu streichen. Und dann setzte der ­Applaus ein. Ehrfürchtiges Klatschen, wie im Theater. Applaus in einem fremden Stadion. Für den ewig polarisierenden Ronaldo. Wahrscheinlich begann er selbst erst in diesem Moment zu realisieren, was er da getan hatte.

„Ich habe es lange gesucht“, sagte er später über „das wohl schönste Tor meiner Karriere“, gar „eines der schönsten der Fußballgeschichte“ (Zidane), „aber ich hätte es nicht erwartet.“ Auf den Applaus angesprochen zeigte er sich dankbar bis demütig: „Es war ein unglaublicher Moment. ‚Grazie‘ an die Juve-Fans, dass sie das für mich gemacht haben. Das ist mir in meiner ganzen Karriere noch nie passiert.“

Ein Einschnitt, ganz gewiss. Die gängige Interpretation seiner Laufbahn, seines Eifers, der ganzen Professionalität mit Schlaftrainer und Kältekammer und damit der scheinbaren Alterslosigkeit und seiner ganzen Rekorde war ja immer gewesen, dass er etwas zu beweisen habe. Den geifernden Fans, den Experten, die Messi besser finden, wem auch immer. Vielleicht hat man sich damit aber auch etwas vorgemacht. Vielleicht war er nicht deshalb so gut, weil er so viel Widerstand hatte. Vielleicht war er trotz der ganzen Widerstände so gut. Und ist noch besser, wenn er sich geliebt fühlt.

Die Widerstände sind schließlich weniger geworden, spätestens seit der fünften Auszeichnung zum Weltfußballer. In der Branche zollt man ihm immer mehr Respekt, nun sagte der große alte Torwart Buffon: „Seine Bedeutung ist vergleichbar mit Pelé, Maradona und Messi.“ Die Großen vier der Fußballgeschichte, so kann man es wohl jetzt sagen. Ronaldo ist endgültig auf dem Level historischer Sportgrößen angekommen wie Jordan, Muhammad Ali, Roger Federer. Als Teil einer Fußballmannschaft, ja, aber mit der Bedeutung eines Individualsportlers, ein planetarisches Ereignis, Gemeinschaftseigentum der Menschheit, größer sogar als sein Verein, auch wenn der Real Madrid heißt und selbst der größte ist.

Am Abend, als Ronaldos Lebenswerk kulminierte, machten die Spanier einen weiteren Schritt zum dritten Champions-League-Sieg in Folge. Nachdem Ronaldo noch ein Tor für Marcelo aufgelegt hatte, hieß es am Ende 3:0, aber der Unterschied in einem packenden Match zwischen einem energischen Juventus und einem eleganten Madrid war eigentlich nur, dass eine Mannschaft ihre Chancen nutzte und die andere nicht. Also in Ronaldo, der ein Vorher und Nachher einer Karriere markierte, in der es schon so viel Vorher gab und in der die Frage trotzdem immer die gleiche bleibt: Wo ist sein Limit?