Berlin. Nach 22 Spielen ohne Niederlage verliert die deutsche Fußball-Nationalmannschaft wieder. Jesus erzielt das Tor des Abends

Tite schloss lange die Augen. Vielleicht lang die Schwere des Moments auf ihnen. Wusste der brasilianische Nationaltrainer doch, dass es nun, da die Nationalhymnen gesungen waren und der Anpfiff wartete, um nicht weniger gehen würde, als die Gespenster der Geschichte zu verjagen. Tite war nach Berlin gekommen, um das 7:1-Trauma aus dem WM-Halbfinale 2014 gegen Deutschland zu überwinden. Und was der 56-Jährige nun gegen die deutsche Nationalelf sah, als er die Augen wieder öffnete, gefiel ihm sehr.

Deutschland verlor das Testspiel gegen Tites Selecao durch einen Treffer von Gabriel Jesus (36. Minute) mit 0:1. Durch die Niederlage verpasste es die Elf von Bundestrainer Joachim Löw, den Uraltrekord von Jupp Derwall einzustellen: Unter ihm blieb die DFB-Auswahl zwischen Oktober 1978 und Dezember 1980 23 Spiele lang ungeschlagen. Löws Serie riss nach 22 Partien. Das lag auch daran, dass da in Brasilien ein Team wiedererstarkt ist, mit dem bei der WM im Sommer zu rechnen sein wird. Mit dem hoffnungslos überschätzten von 2014 jedenfalls hat es nichts mehr zu tun.

Meistens liefen die harmlosen Deutschen nur hinterher

Hatte es in jenem 2014er Fabel-Halbfinale von Belo Horizonte nach 29 Minuten bereits 4:0 für Deutschland gestanden, gab es in der Neuauflage 35 Minuten lang keinen einzigen, wirklich gefährlichen Schuss zu notieren. Brasilien trat nicht mehr wie damals als emotionalisierte Ansammlung von Einzelartisten auf, sondern fast schon unterkühlt überlegt – wie eine Mannschaft mit einem Plan eben. Löw hatte – ein Schelm, wer darin eine Anspielung an 2014 entdecken wollte – auf sieben Positionen im Vergleich zum starken 1:1 gegen Spanien am Freitag gewechselt. Sein Plan im letzten Test vor der Nominierung des vorläufigen WM-Kaders am 15. Mai lautete: ausprobieren. Der Herthaner Marvin Plattenhardt durfte im eigenen Stadion links in der Viererkette sein sechstes Länderspiel bestreiten, der Pariser Ersatzkeeper Kevin Trapp im Tor stehen. Er sollte eine unglückliche Figur abgeben. Vorn stürmte Mario Gomez. Als Kapitän lief in seinem 70. Länderspiel Jerome Boateng auf – und das in seiner Heimatstadt. Weil neben ihm im Abwehrzentrum auch Antonio Rüdiger begann, hatten wir das Phänomen, dass in Berlin drei Berliner die deutsche Verteidigung bildeten: zwei gebürtige und ein zugezogener mit Plattenhardt.

Die ersten 35 Minuten also bekamen die 72.717 Zuschauer im ausverkauften Olympiastadion ein Abtasten zu sehen. Dann entwischte der brasilianische Windhund Gabriel Jesus zum ersten Mal der deutschen Defensive, drosch den Ball aber überhastet in den Berliner Abendhimmel. Das allerdings war im wahrsten Sinne der Startschuss dieser Partie: Nur Sekunden darauf durchschnitt eine Flanke die deutsche Abwehr, Jesus stieg hoch und köpfte so hart, dass Trapp den Ball nicht vom Überqueren der Linie abhalten konnte: 0:1 (36.) – das Tor des Abends. Wer hörte, wie frenetisch die zahlreichen brasilianischen Fans diesen Treffer in einem Testspiel feierten, der ahnte, welch Last das 7:1 doch noch war.

In den Startformationen der Neuauflage jenes WM-Fabelspiels standen nur noch je zwei Akteure, die auch 2014 begannen. Toni Kroos und Boateng auf deutscher, Marcelo und Fernandinho auf brasilianischer Seite. Und auch das Kräfteverhältnis waren diesmal anders verteilt: Brasilien gelang es, mit dem Ballkünstler Philippe Coutinho vom FC Barcelona das Tempo des Spiels zu bestimmen. Deutschland fand in dieser neuen Zusammenstellung hingegen nie zur gewohnten Sicherheit in der Defensive und Finesse in der Offensive. Ungewohnte Fehlpässe prägten den schwachen deutschen Auftritt. Nach 55 Minuten hätte es 0:2 stehen können. Wieder Unordnung beim deutschen Team, Willian vom FC Chelsea schoss im Strafraum, aber Rüdiger warf sich dazwischen.

Wenige Augenblicke später zischte ein Schuss von Coutinho über die Latte (57.). Diesmal also sorgten die Brasilianer für die Highlights, Deutschland lief meist nur hinterher. Löw wechselte und brachte unter anderem Sandro Wagner für Gomez. Als der ehemalige Herthaner den Rasen betrat, pfiff ein Teil des Publikums. In Berlin hat man Wagner nicht verziehen, dass er hier 2016 nach seinem Siegtreffer für Darmstadt 98 demonstrativ vor den Hertha-Fans jubelte. Mit dem Stürmer aber kam etwas Schwung. Sein Kopfballversuch in der 72. Minute wurde geblockt. Es war eine der wenigen deutsche Gelegenheit in Halbzeit zwei.

So blieb es beim 0:1. Brasilien hat sich ein wenig für das 7:1 revanchiert, auch wenn es nur ein Testspiel war. Und Löw hat Erkenntnisse gesammelt – vor allem darüber, was nicht funktioniert.