Düsseldorf. Knapp zwölf Wochen vor der WM in Russland will der Bundestrainer den Umbruch nicht verpassen

Wenn es um Visionen geht, kann Oliver Bierhoff sehr leidenschaftlich werden. Und sehr englisch. Gerade erst war er im Silicon Valley (USA), wo stets die Zukunft erfunden wird, zum Ideenaustausch und zur Netzwerkpflege. Und wenn Bierhoff, seit Januar im Rang des Direktors im Deutschen Fußball-Bund (DFB) verantwortlich für die Nationalmannschaften und sportliche Entwicklung, sich so seine Gedanken macht über die Nationalmannschaft, dann klingt das auch nach Silicon Valley, nach Thinktanks und Roadshows.

Erstaunlich also, dass bei einer wichtigen Entscheidung wie der Wahl des Quartiers während der Weltmeisterschaft in Russland kein Computerprogramm half, sondern ein schnödes Blatt Papier. Bierhoff vermerkte darauf Daten und – in Rot – Reisetage mit Aufenthalt an einem anderen Ort als dem gewohnten Hotel. Er musste es vor Augen haben, auf einen Blick. Einmal von Sotschi aus, jener Stadt am Schwarzen Meer, von der aus das deutsche Team den Confed-Cup 2017 gewann. Und einmal von Moskau aus.

Ergebnis: Wenn sich das Turnier in den letzten zwei Wochen in die entscheidende Phase begibt, gerät Sotschi – wenn sportlich alles planmäßig verläuft – in den roten Bereich: zehn Reisetage. Von Moskau aus nur vier. Weniger Strapazen. Gewohnte Umgebung. Deswegen: Vatutinki, ein Ort mitten im Nichts südwestlich von Moskau. „Wir sind da nicht, um möglichst viel Spaß zu haben, sondern um den Titel zu holen. Daher war es logisch, sich für Moskau zu entscheiden“, sagt Bierhoff.

Nur noch acht Weltmeister von 2014 sind dabei

Detailplanung, die zum großen Coup verhelfen soll. Der Weg ist eingeschlagen, um die Mission Titelverteidigung zu beginnen. Die ausverkauften Partien gegen Spanien am Freitag in Düsseldorf (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht beendet) und vier Tage später gegen Brasilien in Berlin sind die ersten des WM-Jahres – und die letzten, bevor der vorläufige Kader im Mai stehen muss.

Makellos war die WM-Qualifikation des Weltmeisters, neue Männer drängen in den Vordergrund. „Der Konkurrenzkampf ist durch den Confed-Cup nicht kleiner geworden – das ist spannend“, sagt Bierhoff. 26 Spieler statt wie üblich 23 nominierte Löw. Wer jetzt nicht dabei ist, darf zumindest ins Grübeln geraten, ob er auf dem richtigen Weg ist.

Namentlich die in Dortmund nicht dauerhaft herausstechenden Weltmeistertormacher Mario Götze und André Schürrle, Shkodran Mustafi, der beim FC Arsenal zu wankelmütig verteidigt, Benedikt Höwedes, der bei Juventus Turin wegen wiederholter Verletzungen gar nicht verteidigt, Julian Weigl, der in Dortmund sein Formtief gegen jeden Anflug von Besserung verteidigt.

„Ein kleiner Fingerzeig Richtung WM“, so Co-Trainer Thomas Schneider, sei der Kader nun. Nur acht Weltmeister von 2014 umfasst er derzeit. Löw will offenbar nicht den Fehler machen, den Umbruch zu verpassen. Dass drei der vier Weltmeister vor dem deutschen Triumph 2014 beim folgenden Turnier in der Vorrunde ausschieden (Frankreich 2002, Italien 2010, Spanien 2014) und der vierte im Viertelfinale scheiterte (Brasilien 2006), ist ihm Warnung genug. „Alle müssen sich hinterfragen, was man besser machen kann“, mahnte der Bundestrainer. Und Bierhoff assistierte: „Wenn wir erfolgreich sein wollen, dürfen wir kein Prozent nachlassen.“ Wissend, dass man in Phasen des Erfolgs üblicherweise die größten Fehler macht.

Der WM-Titel, der Confed-Cup-Gewinn 2017, der U-21-Triumph im gleichen Sommer – all das soll nicht den Blick verstellen darauf, dass nicht weniger als alles erforderlich sein wird, um den Titel zu holen. Diesen. Und zukünftige, um die sich Löw und Bierhoff derzeit ebenfalls sorgen.

Im internationalen Vereinsfußball hat sich die Bundesliga in dieser Saison beherzt blamiert, spielerische Vielfalt bietet sie im von Bayern München dominierten Liga-Alltag ebenfalls nicht, und in den nationalen Nachwuchsmannschaften habe die Leistungsdichte laut DFB-Direktor Bierhoff abgenommen. „Wir müssen was tun im deutschen Fußball und aufpassen, dass wir nicht von anderen Nationen abgehängt werden“, sagt der 49-Jährige. „Wir brauchen den nächsten Masterplan.“

Bierhoff hat ihn bereits entworfen. Der Bau einer Akademie in Frankfurt am Main als Heimat der Elite, als zen­traler Ort des Wissens und Weiterbildens, soll das Niveau signifikant heben helfen. Thinktank, Roadshow und schnödes Papier inklusive.