Hamburg. Die Ultras auf der Südtribüne sind laut, links und manche nicht immer friedlich. Nun wurden einige Gruppierungen offenbar ausgeschlossen

Der 31. Oktober 2016 ist ein Montag, ein bei den meisten Fans so ungeliebter Termin für ein Fußballspiel. Der FC St. Pauli ist Tabellenletzter und erreicht gegen den 1. FC Nürnberg nur ein 1:1. Nach dem Spiel, es ist kurz nach 23 Uhr, trifft eine Gruppe St.-Pauli-Fans an der Detlev-Bremer-Straße auf einen 35-jährigen Mann, vermeintlich ein Nürnberger. Aus der Gruppe schlagen und treten mehrere Männer wuchtig auf ihn ein. Doch der Mann ist kein Franke, er ist Zivilfahnder an der Davidwache – fährt seinen Teleskopschlagstock aus und gibt sich zu erkennen. Doch das stachelt die Gruppe offenbar nur noch mehr an. „Schnappt euch die Zivi-Sau“, wird gerufen. Um sich gegen weitere Angriffe zu schützen, setzt der Beamte Pfefferspray ein. Schließlich gerät er ins Straucheln und fällt zu Boden. Abermals stürzt sich die Gruppe auf ihn, verpasst ihm Faustschläge und Tritte gegen den Körper und den Kopf. Die Randalierer lassen erst von ihm ab, als eine weitere St.-Pauli-Fangruppe sie lautstark dazu auffordert – der Polizist kommt schwer verletzt ins Krankenhaus.

So zumindest schildert die Staatsanwaltschaft den Fall. Sie hat drei Verdächtige ermittelt und am 22. August 2017 angeklagt: Daniel F. (34), Robin M. (24) und Jonas A. (24), Mitglieder der „New Kidz Sankt Pauli“. Einen Gerichtstermin gibt es immer noch nicht, andere Fälle hätten Priorität, heißt es.

Die Tat war besonders brutal – aber keineswegs die einzige im Umfeld der Fanszene in Hamburg. Und es stellt sich auch die Frage: Hat der FC St. Pauli – über lange Jahre bekannt für seine friedlichen Anhänger – mittlerweile ein massives Gewaltproblem? Oder war das vielleicht immer ein Mythos?

In den vergangenen zwei Jahren drohte eine Eskalation

Daten, die die Polizei nennt, scheinen eine klare Antwort zu geben. Da ist von einer erheblichen Zahl „gewaltbereiter und gewaltsuchender Fans“ die Rede – im dreistelligen Bereich. B- und C-Fans heißt das im Polizei-Jargon. Die Größenordnungen sind bei St. Pauli und dem HSV vergleichbar. Wie die Daten zustande kommen, ist unklar. In Fankreisen wird immer betont, dass in den Listen auch völlig Unschuldige auftauchen und vor allem Ultras kriminalisiert würden. Dass es aber gewalttätige Fußballfans auch am Millerntor gibt, kann niemand wegdiskutieren. Dennoch ist die Sache keineswegs so einfach und klar, wie es auf den ersten Blick scheint. Dafür ist die Fanszene zu vielschichtig, und auch die Ultras, die am Millerntor auf der Südtribüne stehen, sind natürlich keineswegs eine homogene Gruppe.

„Im Stadion und davor ist es in der Regel ohnehin friedlich, da passiert fast nichts“, sagt ein Polizist – einer von acht „szenenkundigen Beamten“ in Hamburg. Er ist am Millerntor und im Volkspark im Einsatz und fährt auch regelmäßig zu den Auswärtsspielen der beiden Clubs, um die Polizei vor Ort zu beraten. „Das meiste spielt sich aber nicht vor unseren Augen, sondern im Verborgenen ab“, sagt er. Damit meint er Skurrilitäten wie die „Acker-Liga“: Da treffen sich Hooligans irgendwo auf einer abgelegenen Wiese oder eben einem Acker und attackieren sich – zum Teil streng nach Regeln und sogar mit Schiedsrichtern und Tabellen …

In einer anderen Liga spielen die teils äußerst brutalen Auseinandersetzungen zwischen HSV- und St.-Pauli-Fangruppen in der Stadt. Doch so groß die Rivalität auch ist, gemeinsam ist ihnen die Abneigung gegenüber der Polizei. So erstatten auch die Opfer von Gewalttaten in der Regel keine Anzeigen. Politisch sind die Taten übrigens nicht motiviert. Die St.-Pauli-Fans definieren sich seit Jahrzehnten als links. „Und die HSV-Ultras sind dem gleichen Spek­trum zuzuordnen“, sagt der Beamte.

Dennoch schien es eine Zeit lang, als ob eine immer heftiger werdende Eskalation nicht mehr aufzuhalten wäre. Mehrfach wurden beispielsweise St.-Pauli-Fans von HSV-Schlägern überfallen: in einem Parkhaus, an den Landungsbrücken; ein junger Mann wurde mit einem Messerstich lebensgefährlich verletzt, und – so schildern es Fans – sogar ein körperlich Beeinträchtigter wurde überfallen und in einem Wald ausgesetzt. Natürlich ging es auch in die andere Richtung: Mehrfach wurde die „Tankstelle“, ein HSV-Fantreff in der Nähe des Hans-Albers-Platzes, überfallen. Und als der HFC Falke (eine Vereinsgründung von HSV-Fans, die wegen der Gründung der Fußball-AG den Club verließen) in der 7. Liga gegen St. Pauli III spielte, kam es zu einer brutalen Attacke von St.-Pauli-Fans.

Vergangenes Jahr hatten sich die Ultras Sankt Pauli (USP) – die größte und älteste Ultragruppe – zur linken HSV-Szene geäußert. „Sie sind unsere Gegner und werden so behandelt – und sie bleiben es auch, wenn sie sich in linken Strukturen verorten oder ein Antifa-Shirt anziehen“, hieß es auf der Homepage. Wobei die Autoren betonen, dass es sich nur um eine kleine Gruppe innerhalb der HSV-Ultras handele – und dass man die sportliche Positionierung bei gemeinsamen politischen Aktionen ausblenden wolle. Sogar in der Roten Flora sind die Auseinandersetzungen Thema. „Zeck“, das Hausblatt, brachte einen Artikel („Ultra nervig“), in dem das „mackerige, aufgeplusterte Verhalten“ linker Fußballfans beklagt wurde – der Konflikt zwischen HSV- und St.-Pauli-Linken behindere die politische Arbeit.

Immerhin: Seit einiger Zeit ist es, zumindest scheinbar, ruhig geblieben. Oke Göttlich, Präsident des FC St. Pauli, beobachtet die Lage naturgemäß sehr genau. Vorwürfen, der Club ignoriere die Probleme und pflege lieber das Image des „anderen Vereins“, tritt er entschieden entgegen. „Wir reden aber lieber mit unseren Fans als über sie“, sagt er. „Zudem pflegen wir eine kontinuierliche Kommunikation mit unseren Fans auf allen Ebenen“, erläutert er. In der Tat gibt es im Club diverse Foren dafür: Etwa den „Ständigen Fanausschuss“, der sich regelmäßig mit Präsidium und Geschäftsführung trifft, den Fanclub-Sprecherrat oder den Fanladen, dessen Räume in der Gegengeraden des Stadions untergebracht sind. Dort arbeiten mehrere Sozialpädagogen (Träger ist der Verein Jugend und Sport e.V.), die „Gewaltprävention“ als Grundelement ihrer Tätigkeit ansehen.

Oberste Maxime des Clubs ist es naturgemäß, die Sicherheit im Stadion zu garantieren – für alle Besucher. Dabei geht es dann auch um das leidige Thema Pyrotechnik. Das Abbrennen ist verboten, es ist gefährlich – und die Dämpfe sind auch für die unbeteiligten Zuschauer gesundheitsschädlich. Und für die Clubs ist es teuer – jedes Abbrennen im Stadion zieht eine hohe Strafe der Deutschen Fußball Liga (DFL) nach sich. Gerade beim letzten Heimspiel gegen Kiel haben Ultras wieder Pyros und Rauchtöpfe gezündet. Das war das erste Mal in dieser Saison – allerdings könnte es heute beim Spiel gegen Braunschweig (13 Uhr) wieder passieren. Zumindest haben Ultragruppen „sichtbare Aktionen“ angekündigt (siehe Infokasten).

Im Gegensatz zu anderen Vereinen verurteilt der FC St. Pauli solche „Pyro-Vorfälle“ öffentlich nicht. „Dies führt nur zu einer höheren Eskalationsstufe, die in Wahrheit nichts bringt“, sagt Geschäftsführer Andreas Rettig. Er ist einer der profiliertesten Fußball-Funktionäre in Deutschland, war früher DFL-Geschäftsführer und Manager mehrerer Clubs. „Während meiner Kölner Zeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass markige, öffentliche Worte von Vereinsvertretern oft kontraproduktiv sind. Die hier gemachten Erfahrungen zeigen, wie wichtig ein Vertrauensverhältnis zwischen Verein und Fanszene ist.“

Die „New Kidz“ sind von der Südtribüne verschwunden

Vor gut einem Jahr hat sich der Club allerdings klar gegen die eigenen Ultras positioniert. Am 12. Februar hatten sie beim Spiel gegen Dresden ein geschmackloses Banner gezeigt: „Schon eure Großeltern haben für Dresden gebrannt – Gegen den doitschen Opfermythos!“ Wegen dieser Verhöhnung der Opfer der verheerenden Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945 hat sich der Club sofort nach dem Spiel öffentlich entschuldigt – und persönlich bei den Dresdener Vereinsfunktionären. Nach dem brutalen Überfall auf den Zivilpolizisten blieb eine solche öffent­liche Distanzierung allerdings aus – aus Vereinskreisen heißt es, dass es zunächst nicht eindeutig klar war, wer die Täter sind. Deshalb habe man nicht reagieren können. Allerdings wurde der verletzte Polizist später zu einem Spiel in eine Loge eingeladen.

Stadionverbote wird es zumindest vor einer rechtskräftigen Verurteilung nicht geben. Ohnehin hat sich die Situation auf andere Weise entschärft. Denn sowohl die „New Kidz St. Pauli“ als auch die „Warriorz“ und die „Originals“ sind als Gruppen von der Südtribüne verschwunden. Offenbar haben sie ein „internes Stadionverbot“ bekommen. Dazu muss man wissen: 2600 Stehplatzkarten für die Südtribüne werden nicht auf üblichem Weg verkauft. 2000 Dauerkarten bekommen die selbstorganisierten Fans mit USP an der Spitze, die sie dann selbst weitervergeben. 600 Tagestickets werden vom Fanladen verteilt. Ob die Gewalttätigkeiten beim Ausschluss eine Rolle spielten, ist unklar. Offenbar haben einige eine gewisse Nähe zu rechtem Gedankengut gezeigt und sind durch sexistische Äußerungen aufgefallen. Oke Göttlich spricht in diesem Zusammenhang von den „Selbstreinigungskräften der Fangemeinde“.

Dass die meisten Ultras gewaltlos sind, bestätigt übrigens auch die Polizei. „USP etwa ist aus unserer Sicht kein großes Problem. Die sind friedlich – es sei denn, politisch Rechte kommen ins Spiel“, sagt der szenenkundige Beamte. Dennoch ist die Polizei in Sorge, vor allem für die nächste Saison. Denn in der Zweiten Liga droht eine Konstellation, wie es sie noch nie gab. Wenn der HSV absteigt, Kiel in der Liga bleibt, und Rostock und Magdeburg aufsteigen – das ist sportlich alles gut möglich – droht eine Eskalation. Die „Feindschaft“ all dieser Fans zu St. Pauli ist besonders ausgeprägt, auch wenn die Rivalität (wie bei Rostock und Magdeburg) auch untereinander heftig ist.

Für Göttlich und Rettig spielen aber auch ganz andere Faktoren eine Rolle. „Je stärker sich der Fußball kommerzialisiert und von den Fans entfremdet, desto größer werden die Konfliktpotenziale“, sagt Göttlich. In diesem Punkt jedenfalls weiß er die St.-Pauli-Anhänger fest an seiner Seite.