Hamburg. Seit der Ausgliederung 2014 hat der HSV mehrfach alles und jeden ausgetauscht – bis auf Vorstand Frank Wettstein. Das Porträt eines Übriggebliebenen

Die stolze Meldung auf der Homepage des FC Viktoria Schlich ist noch immer schnell zu finden: Gegen „zahlreiche Kontrahenten“ habe sich Frank Wettstein im Saal Behrendt bei der Herbstkirmes im Oktober durchgesetzt und dem kopfüber aufgehängten Hahn als Erster den Kopf abgeschlagen. Dem Holzhahn, wohlgemerkt. Wettsteins verdienter Lohn: der Titel des Hahnenkönigs in seiner rheinländischen Heimat im Kreis Düren.

Nun denn. Seit Donnerstag ist König Frank aus Schlich auch noch Vorstandsvorsitzender Wettstein in Hamburg. Interimsvorstandsvorsitzender, wenn man es genau nimmt. Der letzte und einzig verbliebene Vorstand des HSV, wenn man es ganz genau nimmt.

„Ich trage jetzt die alleinige Verantwortung als Vorstand“, sagt Wettstein bei seiner Präsentation. „Aber ich treffe nicht alleine die Entscheidungen.“ Ein paar Meter entfernt steht Bernd Hoffmann im vollen Presseraum und nickt. Der HSV-Präsident, Aufsichtsratsvorsitzender und Königsmacher in Personalunion, war es, der Wettstein nur kurz zuvor informiert hatte, dass er den bisherigen Clubchef Heribert Bruchhagen beurlaubt habe und somit er der neue Clubchef sei.

Der König ist tot, es lebe der König!

„Nachdem mich Herr Hoffman informiert hat, dass der Aufsichtsrat so entschieden hat, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir einen vollständigen Umbruch brauchen“, antwortet Wettstein, als er gefragt wird, warum neben Bruchhagen auch Sportchef Jens Todt beurlaubt wurde. „Wir haben uns deshalb auch auf der Position des Sportdirektors so entschieden.“

Ein vollständiger Umbruch also.

Knapp vier Jahre ist es her, als der HSV tatsächlich einen vollständigen Umbruch wagte: Erst wurde die Ausgliederung im Mai 2014 beschlossen, dann folgte die personelle Neubesetzung. Im November 2014 war Wettstein der letzte Mosaikstein, der den damaligen Vorstand komplettierte und der für eine bessere Zukunft sorgen sollte. Stichwort: aufstellen für Europa. Heute ist er der letzte Mohikaner, der letzte Mann.

„Als ich angefangen habe, waren wir zu viert, dann zu dritt und zuletzt nur noch zu zweit“, sagt Wettstein. „Eins. Und null“, ergänzt ein Journalist die Zahlenreihe. Allgemeines Gelächter.

Doch obwohl das Königreich HSV wankt, bleibt König Frank standhaft. Die Frage nach seiner persönlichen Verantwortung für den stetigen Niedergang beantwortet er erst auf Nachfrage. „Ich habe Entscheidungen mitgetroffen, die ich mit dem Wissen von heute anders getroffen hätte“, sagt der 44-Jährige.

Tatsächlich wurde seit der Ausgliederung beim HSV mehrfach alles und jeder ausgetauscht: Dietmar Beiersdorfer, Joachim Hilke, Carl Jarchow, Oliver Kreuzer, Peter Knäbel. Sie alle kamen und gingen. Dazu noch all die Trainer: Mirko Slomka, Joe Zinnbauer, Bruno Labbadia, Markus Gisdol, Bernd Hollerbach und möglicherweise schon bald Hollerbachs Nachfolger (siehe unten). Nur einer blieb immer: Frank Wettstein.

„Ich erhebe kein Anspruch auf das Amt des Vorstandsvorsitzenden. Das ist nur ein vorübergehender Zustand“, sagt der Herr über die Zahlen, der das alleinige Zepter nie übernehmen wollte. Genauso wenig wie die Verantwortung.

„Der HSV ist in einer sportlichen Krise, die sich seit Jahren angekündigt hat. Auf der anderen Seite hat der HSV sehr großes Potenzial und sehr große Chancen“, sagt der Hahnenkönig, für den – typisch Rheinländer – selbst in der größten Krise das Glas eher halb voll als halb leer ist: „Wir laufen nicht in Gefahr, dass der HSV auseinanderfliegt. Ich sehe auch keine Führungslosigkeit.“

Wenn man mit Frank Wettstein über seine Anfänge im Fußball spricht, dann berichtet der Vorstand des HSV allerdings eher von leeren Flaschen als von halb vollen Gläsern. Eine eigene Karriere als Fußballer habe er bereits in der Jugend aufgeben müssen. Das Talent habe gefehlt, gibt er offen zu. Nur schnell sei er gewesen. So schnell, dass er mal in der Abwehr (gegen den schnellstens Gegnerstürmer) und mal im Angriff (gegen die schnellsten Verteidiger) eingesetzt wurde.

Auch als Finanzvorstand kann Frank Wettstein Abwehr und Angriff gleichermaßen. Der HSV sei ein Sanierungsfall, gab Wettstein offen und ehrlich bereits vor zwei Jahren zu. Ein Sanierungsfall, der in den drei Jahren seiner Amtszeit nur nie saniert wurde.

Kurz nach seiner Verpflichtung durfte Wettstein für das Geschäftsjahr 2013/14 ein von ihm nicht zu verantwortendes Millionenminus von 9,8 Millionen Euro verkünden. Es folgten der Rekordfehlbetrag von 16,9 Millionen Euro (2014/15), ein bilanziell aufgehübschtes Minus von 0,2 Millionen Euro (2015/16) sowie das erneut fette Minus von 13,4 Millionen Euro (2016/17). Und auch die versprochene Schwarze Null in dieser Saison wird nach der Entlassung von Markus Gisdol nicht eingehalten. Aktuell rechnet der HSV mit einem Minus von 1,5 Millionen Euro.

Wettstein hatte die ungenierte Prasserei von Ex-Vorstand Dietmar Beiersdorfers nicht zu verantworten, verhindert hat er sie aber auch nicht. Genauso wenig wie den Sündenfall der Ära Bruchhagen, als man dem Druck von Investor Klaus-Michael Kühne nachgab, André Hahn für 6,5 Millionen Euro verpflichtete und gleichzeitig Bobby Woods Gehalt auf mehr als drei Millionen Euro verdoppelte. Auch die Entscheidung, Trainer Bernd Hollerbach einen ligaunabhängigen Vertrag zu geben, hat nicht Wettstein zu verantworten. Nachfragen hätte aber auch er gedurft – weswegen er sich nun selbst kritische Nachfragen gefallen lassen muss.

„Wir durchlaufen ein Restrukturierungsprozess“, sagt der gelernte Wirtschaftsprüfer gerne, der trotz Verbindlichkeiten von 105 Millionen Euro nicht müde wird zu erklären, dass nicht die Höhe der Verbindlichkeiten die Herausforderung des HSV sei. Sondern die Fälligkeit. Sein größtes Problem: Bereits im kommenden Jahr wird die Fan-Anleihe in Höhe von 17,5 Millionen Euro fällig.

Und Wettstein? Sagt: „Wir antizipieren, dass wir die Lizenz bekommen.“

Dreieinhalb Jahre ist der einstige Sanierer von Borussia Dortmund („Der Club war mausetot“) bereits beim HSV – und hat in der Zeit so ziemlich alles erlebt, was man erleben kann. „Das war wie bei Winnetou“, sagte er in der HSV-Kneipe Tankstelle auf dem Kiez, als er von der Last-Minute-Rettung in der Relegation gegen Karlsruhe berichtete. „Du liegst angeschossen auf der Pritsche, das Leben zieht an dir vorbei.“

Angeschossen wurde Wettstein schon häufig, doch der König ist immer wieder aufgestanden. „In den drei Jahren, seitdem ich hier bin, konnte ich mir eine entsprechend starke Stellung erarbeiten“, sagt er am Donnerstag. „Ich spüre das Vertrauen der Mitarbeiter.“

Nur seine Herrschaft als Hahnenkönig ist begrenzt. Am 6. Oktober diesen Jahres muss Wettstein die Krone wieder abgeben. Als HSV-Vorstand ist ein Ende dagegen nicht in Sicht.