HSV-Fan Hauke Neuendorf war seit 1987 bei knapp 70 Duellen zwischen Bremen und Hamburg live dabei. Er sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt – den Glauben an den Klassenerhalt hat allerdings auch er verloren

Sein erstes Mal vergisst man nicht. Sagt Hauke Neuendorf. 13 Jahre war er alt. Es war intensiv, aufregend, prickelnd. Und es war so besonders, dass er davon nicht genug bekommen konnte. „Wer dieses Gefühl erlebt hat, der will das wieder und immer wieder erfahren“, sagt er.

Das Gefühl, von dem Neuendorf da spricht, ist das Derbygefühl. 1982 war er das erste Mal im Stadion live dabei. „Damals noch mit Mutti“, sagt der mittlerweile 49-Jährige. „Der HSV hat 5:0 gewonnen. Dreimal Horst Hrubesch.“ 36 Jahre ist Neuendorfs Nordduell-Premiere her, doch bis heute kann er sich an jedes Derbydetail erinnern. „Es war der drittletzte Spieltag, und nach dem Sieg war dem HSV die Meisterschaft kaum zu nehmen. Es war der absolute Hammer.“

Hauke Neuendorf sitzt im Café Torre Faktum in Ottensen – nur 4,5 Kilometer vom damaligen Tatort entfernt. „Das Volksparkstadion war schnell mein zweites Zuhause“, sagt der gebürtige Soltauer. Seit 1986 hat er eine Dauerkarte, erst in der Westkurve, später auf der Nordtribüne. Und 1987 war Neuendorf erstmals bei einem Auswärtsspiel des HSV dabei – natürlich in Bremen. „Werder hat durch zwei Rudi-Völler-Tore 2:1 gewonnen. Trotzdem war es ein sensationelles Gefühl, den HSV gegen das ganze Weserstadion anzufeuern.“

Anhänger Neuendorf war bei mehr als 1000 HSV-Spielen

Ein Gefühl, auf das der Oststeinbeker seit diesem 1:2 nicht mehr verzichten wollte. Das Gründungsmitglied der HSV-Supporters war seit seiner Auswärtspremiere bei nahezu allen Derbys live dabei – mit DFB- und Europapokal waren das knapp 70 Nordduelle. „Das Derby war immer der Höhepunkt der Saison. Mehr geht nicht“, sagt Neuendorf und nippt an seinem Feierabend-Mineralwasser. „Ich will und kann mir einfach nicht vorstellen, dass es bald kein Derby mehr geben soll.“

Selbstverständlich ist der Familienvater auch an diesem Sonnabend (18.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) mit seinem Fanclub im Weserstadion dabei. Und die Angst ist groß: Eine Niederlage – und der Abstand auf den Relegationsplatz könnte bereits sieben Punkte betragen. Doch trotz der brisanten Situation ist der Name von Neuendorfs Fanclub, mit dem er die 110-Kilometer-Fahrt auf sich nimmt, Programm: Kap der guten Hoffnung. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt der HSV-Anhänger, dessen Hoffnung in dieser Saison auf eine harte Probe gestellt wird. „Mein Kopf glaubt nicht mehr an den Klassenerhalt, aber mein Herz will die Hoffnung nicht aufgeben.“

Ähnlich verhält es sich auch mit seinen Erinnerungen an die zahlreichen Nordderbys seitdem. Der Kopf sagt, dass der HSV meistens verloren hat – und hat recht. 30 Niederlagen in der Bundesliga, im Europapokal und im DFB-Pokal stehen seit Rudi Völlers Doppelpack im Februar ’87 zu Buche. Doch Neuendorfs Herz erinnert sich viel lieber an die 19 Siege. An den 4:1-Auswärtssieg am vorletzten Spieltag 1988 zum Beispiel. „Werder war schon Meister, aber wir haben ihnen die Feier kräftig verdorben“, sagt Neuendorf, grinst und rattert wie aus der Pistole geschossen die Torschützen herunter: „Benno Möhlmann, Uwe Bein und zweimal Bruno Labbadia.“

An den Heimsieg ein Jahr später erinnert sich Neuendorf, als wenn es gestern gewesen wäre. „Ich denke immer an die Szene zurück, wie Ditmar Jakobs von einem Karabinerhaken in den Rücken aufgespießt wird.“ Der HSV gewann 4:0, doch der Erfolg ging unter. Es war Jakobs’ letztes Spiel als Fußballprofi.

Es sind die großen und kleinen Triumphe und Tragödien, die Neuendorf so detailliert in Erinnerung hat, dass es fast schon beängstigend ist. Der „sensationelle 3:2-Sieg“ aus dem Jahr 1991 zum Beispiel. „Ich weiß noch, dass die Sportschau ihren Bericht mit dem Depeche-Mode-Song ,Just can’t get enough‘ begonnen hat“, sagt Neuendorf, der von HSV-Werder-Duellen auch nie genug bekommen konnte. Auch nicht, als sich sein HSV am vorletzten Spieltag der Saison 1992/93 mit 0:5 abschlachten ließ und Werder den entscheidenden Vorteil gegenüber Bayern München auf dem Weg zur Meisterschaft hatte.

„HSV gegen Werder“, sagt Neuendorf fast träumerisch. „Das waren Pagelsdorfs Tränen 1998, das war 2000 der Siegtreffer von Ingo Hertzsch, der eigentlich nie traf. Und das war natürlich der 1:0-Auswärtssieg dank Bernardo Romeos späten Treffers 2002.“ Es war das erste Spiel, zu dem er seinen damals zehnjährigen Sohn Kevin mitnahm. „Die meisten Söhne von HSV-Fans hießen früher Kevin oder Felix“, sagt Neuendorf und lacht. Bei ihm habe die Namensauswahl aber nichts mit Kevin Keegan oder Felix Magath zu tun, bekräftigt er – und fast ist man geneigt, ihm zu glauben. Wie denn sein zweiter Sohn heiße? „Nico Jan“, antwortet er und muss erneut grinsen. Denn wer stand bei Romeos 1:0-Sieg als HSV-Kapitän auf dem Platz? Genau: Hoogma, Nico Jan Hoogma.

Nun denn, Nico Jan (Neuendorf, nicht Hoogma) und Kevin (Neuendorf, nicht Keegan) sind an diesem Sonnabend selbstverständlich mit Papa Hauke in Bremen. „Viel erwarten können wir nicht“, sagt Vaddern. „Es geht ja nur noch ums Überleben. Früher war das Derby ein nationales Spitzenspiel.“

Dabei ist „früher“ gar nicht so lange her. 2007 zum Beispiel, als der HSV im Weserstadion durch zwei van-der-Vaart-Tore triumphierte. Und 2009, als Hamburg und Bremen viermal innerhalb von nur 19 Tagen aufeinandertrafen. „Da fing die ganze Misere an“, sagt Neuendorf. Die Geschichte ist hinlänglich bekannt: Die Papierkugel, das Aus im Uefa-Cup-Halbfinale, das Aus im Pokal-Halbfinale und das Aus im Kampf um die Champions League. „Ohne Worte“, sagt Neuendorf, dem dann doch ein paar Worte einfallen. „Als Trochowski im Hinspiel des Uefa-Cup-Halbfinales das 1:0-Siegtor erzielt hatte, haben wir auf der Rückfahrt darüber gesprochen, wo wir Tickets für das Endspiel in Istanbul herbekommen.“

Am Ende konnten sich die Mitglieder vom Kap der guten Hoffnung die Reise in die Türkei bekanntlich sparen. Werder gewann in Hamburg 3:2 – und der schleichende Niedergang des HSV war nicht mehr aufzuhalten. „Alles, was nach diesen Werder-Wochen kam, war nicht mehr das Gleiche“, sagt Neuendorf. „Wir spielten irgendwann nur noch gegen den Abstieg – und viel besser waren die Bremer bald danach ja auch nicht mehr.“

Gewinnen konnte der HSV in Bremen seit den traumatischen Werder-Wochen allerdings nur noch ein einziges Mal: 3:1 am 28. November 2015. „Ilicevic, Gregoritsch und Müller“, zählt Neuendorf die damaligen Torschützen mit glänzenden Augen auf.

Doch gestern ist gestern und heute ist heute. „Und heute muss schon ein kleines Wunder passieren, damit wir die drei Punkte aus Bremen nach Hamburg mitnehmen“, sagt Neuendorf.

Beruflich hat der Controller vor allem mit Zahlen zu tun, doch wirklich gezählt, wie viele HSV-Bundesligaspiele er schon besuchte, hat Neuendorf nie. „Es müssen mehr als 1000 Spiele gewesen sein“, sagt der Superfan.

Und wenn es diesen Sonnabend schiefgeht und der HSV absteigt? „Dann wäre es mit Sicherheit für lange Zeit das letzte Derby“, sagt Neuendorf, der aber sogar nach einem Abstieg in die Zweite Liga treu bleiben würde. „Das Nordderby würde mir extrem fehlen“, sagt er. Aber: „Einmal HSV, immer HSV.“