Pyeongchang. Die Eishockeymänner schlagen Rekord-Olympiasieger Kanada im Halbfinale 4:3 und kämpfen am Sonntag gegen Russland erstmals um Gold

Als sie erklären sollten, was sie da gerade gemacht hatten, fiel ihnen kaum mehr etwas ein. Verausgabt hatten sie sich auf dem Eis, bis zum letzten Bisschen an Kraft. Torhüter Danny aus den Birken beugte sich über seinen Schläger, als würde er ihn unbedingt als Stütze brauchen, um sich überhaupt aufrecht halten zu können. „Wir haben eine Medaille. Wir haben uns einen Traum erfüllt mit einer unglaublichen Mannschaftsleistung“, stammelte er: „Das ist Wahnsinn, das muss ich erst mal realisieren.“ Mit seinen Paraden gegen verzweifelt anrennende Kanadier verhalf der Münchner der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft zum größten Triumph in ihrer Geschichte. Die Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) steht erstmals im olympischen Finale.

Kaum einer konnte begreifen, was sich im Gangneung Hockey Centre am Freitagabend abspielte. Mit 4:3 (1:0, 3:1, 0:2) gewann die Mannschaft von Bundestrainer Marco Sturm das Halbfinale gegen Rekord-Olympiasieger Kanada. Dass die Topstars aus Nordamerikas Eliteliga NHL in Südkorea fehlen, soll diese Sensation nicht schmälern. „Wir werden morgen früh aufwachen und uns fragen, was da passiert ist“, sagte Stürmer Frank Mauer. Abwehrkollege Moritz Müller erzählte: „Ich kann das Gefühl nur schwer in Worte fassen. In den vergangenen Jahren sind wir so unglaublich als Gruppe zusammengewachsen, heute waren das Herz und Leidenschaft.“ Surreal kamen allen die Ereignisse vor. Ein Team aus Deutschland, das seit Jahrzehnten nichts gewonnen hat, düpiert auf einmal die Großen des Eishockeys. „Das ist eine verrückte Welt. Das ist unglaublich, was die Mannschaft geleistet hat“, sagte der Bundestrainer, der sein Team nun auf das Finale am Sonntag (5.10 Uhr MEZ) gegen Russland vorbereiten darf.

Die für das deutsche Eishockey vorstellbaren Dimensionen hatte schon der Sieg im Viertelfinale gegen Weltmeister Schweden gesprengt (4:3 n. V.). Tatsächlich präsentierte sich die Mannschaft noch stärker gegen den Kontrahenten aus dem Mutterland des Eishockeys – und gewann keineswegs glücklich, sondern mehr als verdient. „Wir waren verrückt genug, vor dem Turnier diese Idee auszusprechen in der Gruppe. Vielleicht war es dieser Mut, dieser Größenwahn, der uns hier hingeführt hat“, sagte der Kölner Verteidiger Müller, der mit seinen Kollegen eine WhatsApp-Gruppe mit dem Namen „Mission Gold“ gegründet hatte.

Zum dritten Mal nach 1932 und 1976 nimmt das DEB-Team eine Medaille mit nach Hause. Der größte Erfolg aller Zeiten ist sicher, Gold kann es noch werden. Das Buch dieses fantastischen Wintermärchens ist also um ein wunderbares Kapitel fortgesetzt worden. „Ich hoffe, dass Deutschland genauso stolz auf uns ist, wie wir es selbst sind, dass wir so weit gekommen sind“, sagte aus den Birken. Die ersten Zeilen lieferte der Münchner Brooks Macek, ausgerechnet ein Stürmer geboren in Kanada, aber mit deutschem Vater und deshalb in deutschem Trikot spielend. Zwar versuchten die Nordamerikaner wie die Schweden, gleich zu Beginn für klare Verhältnisse zu sorgen. Doch sie schafften es genauso wenig. Dafür traf Macek in doppelter Überzahl zur Führung (15.). Auch in den drei Spielen zuvor erzielte Sturms Team im Powerplay das 1:0, jede dieser Partien wurde gewonnen. Das sorgte für ein gutes Gefühl auf dem Eis.

So sehr, dass es fast schon frech war, was die DEB-Auswahl da zeigte. Sie störte die Kanadier, die sich schwächer präsentierten als die Schweden, früh im Spielaufbau, gestaltete das Spiel völlig offen. Auf der Tribüne saß fast die halbe deutsche Olympiamannschaft und staunte. DEB-Präsident Franz Reindl hatte sogar noch Karten nachordern müssen, weil das deutsche Kontingent nicht ausreichte. Alle waren im Eishockeyfieber, erst recht, als Mannheims Matthias Plachta auf 2:0 erhöhte (24.). Die Spielfreude trieb immer seltsamere Blüten, ein in der neutralen Zone abgefangener Angriff der Kanadier endete mit dem 3:0 durch den Münchner Mauer, der den Puck artistisch mit dem Schläger zwischen den Beinen ins Netz bugsierte (27.). Das deutsche Team überzeugte nicht nur kämpferisch, sondern zeigte spielerische Klasse.

Zwar taten die Kanadier einiges, um das Spiel zu drehen, doch nach dem zweiten Überzahltreffer durch Plachta zum 4:1 zeigte die Mannschaft, die die vorherigen drei Partien im Penaltyschießen oder in der Verlängerung gewonnen hatte, einmal mehr ihre mentale Stärke. Sie ließ sich durch die Anschlusstreffer nicht beunruhigen und brachte den Sieg gekonnt über die Zeit. „Das ist der größte Tag für das deutsche Eishockey. Ich habe vor ein paar Tagen gesagt: Jeder redet noch von 1976, von dem Team, das die Medaille geholt hat – für die nächsten 50 Jahre wird jeder von unserem Team reden“, sagte Verteidiger Christian Ehrhoff (Kölner Haie). Der Ruhm der glorreichen Mannschaft von 1976 wird bleiben, aber er wird in Zukunft im Schatten stehen der Heldentaten der Mannschaft von 2018.

Eine weitere steht vielleicht noch aus. Unmöglich erscheint nichts mehr. Moritz Müller sagte: „Warum sollen wir nicht Olympiasieger werden?“ Eine schlüssige Antwort darauf gibt es nicht.